Herr Bosler, am Tag der Insolvenz von Wirecard haben Sie beschlossen, erstmals öffentlich über Wirecard zu sprechen. Warum?
Tobias Bosler: Ich musste bis zur Insolvenz warten. Vorher hätte mir niemand geglaubt, dass Wirecard im Milliardenbereich betrügt. Jetzt hört man mir zu. Fast alle Medien haben das von Wirecard erzählte Märchen vom bösen Shortseller, der unwahre Gerüchte verbreitet und damit Kurse manipuliert, geglaubt. Ich wurde als Börsenbetrüger abgestempelt, Wirecard wurde dagegen beschützt. Ich gebe das Interview für meine Familie und Freunde, die zu mir gehalten haben. Dafür haben sie viel Häme einstecken müssen und sie sind von vielen belächelt worden. Ich will, dass sie jetzt lächeln können. Darum mache ich nun öffentlich, was damals geschah.
Schon 2008 ging es bei Wirecard offenbar nicht mit rechten Dingen zu. Was haben Sie herausgefunden?
Die Analyse der Jahresabschlüsse und der Tochtergesellschaften vor 2008 ergab Erstaunliches. Zwei Drittel des Umsatzes erzielte die Wirecard-Gruppe in Deutschland, schrieb dort allerdings Verluste. Die Gewinne kamen aus Gibraltar und von den British Virgin Islands. Dort sitzen typischerweise Glücksspielanbieter. Zudem wies Wirecard im Vergleich zu Konkurrenten bis zu zehn Mal höhere Margen auf. Das kam mir merkwürdig vor. Der schwache Cashflow wirkte aufgebläht. Ich sprach mit Wettbewerbern und Partnern von Wirecard. Mir war klar, dass hier Betrug im Spiel ist. Ende 2008 erhielt ich am Rande einer Wirecard-Party auf dem Münchner Oktoberfest die Bestätigung, dass Wirecard illegales Geschäft macht. Dies wisse fast die gesamte Payment-Branche, sagten mir amerikanische Geschäftspartner von Wirecard. Sie tranken Champagner und amüsierten sich darüber, dass in Deutschland niemand von den illegalen Praktiken zu wissen schien. Sie wunderten sich, dass niemand Verdacht schöpft, obwohl Wirecard schon damals an der Börse war.
Obwohl Sie das damals schon wussten - warum haben Sie erst 2010 Anzeige wegen Geldwäsche bei der Staatsanwaltschaft gestellt?
Mitte 2009 traf ich zufällig auf einen ehemaligen Wirecard-Mitarbeiter. Auch er bestätigte meine Vermutung: Es sei seit mindestens 2006 gängige Geschäftspraxis, in den USA gesetzlich eindeutig verbotene Einzahlungen von Privatpersonen über Kreditkarten auf Online-Poker-Konten systematisch zu ermöglichen. Hierzu würden im Auftrag von Wirecard-Leuten weltweit unscheinbare Online-Unternehmen wie zum Beispiel Blumenlieferdienste oder Handyshops gegründet, über die dann die Einzahlung läuft. Bei Wirecard nenne man all diese Unternehmen Blumenläden, berichtete der Ex-Mitarbeiter. Um den tatsächlichen Geldfluss zum Pokeranbieter zu tarnen, würden die Kreditkartenzahlungen manipuliert oder umcodiert. Die Abwicklung dieser illegalen Transaktionen würden Wirecard zehn Mal mehr Gewinn bringen als legale. Auf der Kredikartenabrechnung des Spielers stehe dann der Name des Blumenladens, das Geld lande jedoch wie gewünscht auf dem Poker-Konto des Spielers. Wie genau der Geldfluss hinter den Kulissen organisiert war, weiß ich nicht. Ich vermute aber, dass das Geld vom Kreditkartenkonto über den Blumenladen zum Poker-Konto geflossen ist.
Warum hat Ihr Informant seinen Arbeitgeber nicht selbst angezeigt?
Er sagte mir, dass er seine Ausführungen - aus Angst vor Repressalien - niemals bei der Staatsanwaltschaft oder vor Gericht wiederholen würde. Ich brauchte also einen anderen Beweis. Im Frühjahr 2010 kam ein Informant aus der Payment-Branche unerwartet auf mich zu. Er berichtete, dass Wirecard Strafzahlungen über 16 Millionen Euro wegen unerlaubter Umkodierungen bei Kreditkartenzahlungen im Bereich Online-Glücksspiel an Mastercard zu zahlen habe. Erst kürzlich sei demnach eine Zahlungsaufforderung bei Wirecard eingegangen. Danach war ich der Meinung, genug Indizien gesammelt zu haben. Ich stellte Strafanzeige wegen Geldwäsche bei der Staatsanwaltschaft München per E-Mail. Einen Monat lang passierte nichts. Dann habe ich die Strafanzeige erneut eingereicht, dieses Mal in Papierform und per Briefpost.
Sie haben kurz darauf Wirecard auch wegen Marktmanipulationbei der Bafin und der Staatsanwaltschaft angezeigt. Was ist aus dieser Anzeige geworden?
Bis heute weiß ich nicht, ob die Bafin meiner Strafanzeige überhaupt nachgegangen ist.
Wie erklären Sie sich, dass der Betrug über all die Jahre nicht bemerkt wurde?
Mir ist unerklärlich, dass die Staatsanwaltschaft das in 2010 eingeleitete Ermittlungsverfahren wegen Geldwäsche im Jahr 2012 eingestellt hat. Meine Strafanzeige war fundiert, ich hatte unter anderem genau erklärt, wie die Umgehung der US-Glücksspielgesetze mithilfe der Blumenläden funktioniert. Ein zweites mutmaßliches Schreiben von Mastercard, das im Internet zu finden war, nährte zudem meinen Verdacht, dass Zahlungen illegal umcodiert wurden. Aber die Staatsanwaltschaft hat nie überprüft, ob das Mastercard-Schreiben authentisch war. Nur zu gern würde ich Einsicht in die Ermittlungsakten nehmen: Was genau hat die Staatsanwaltschaft damals unternommen? Warum hat man den mutmaßlichen Betrug nicht aufgedeckt?
Hätte nicht auch großen Investoren später etwas auffallen müssen? Wie konnte Wirecard in den Dax aufsteigen?
Den Dax-Aufstieg hätte es niemals geben dürfen. Inhaltlich hat sich in Deutschland kaum jemand mit den Vorwürfen auseinandergesetzt. Weder Behörden noch Analysten sind diesen adäquat nachgegangen. Stattdessen hat man Wirecard-Kritiker immer rigoros abgeschmettert, auch mich. Ich habe 2008 ungebetenen Besuch von drei Herren vor meinem Büro erhalten, die mich massiv bedroht und gefordert haben, dass ich sofort meine Shortposition schließen solle. Wirecard hat über Jahre hinweg die Aussagen von Shortsellern als Lügen diffamiert. Das hat offenbar gereicht, um die Behörden zu überzeugen. Fakt ist aber auch: Banken, Fonds, Analysten und Wirtschaftsprüfer machen Umsatz, indem sie Geld ihrer Kunden in börsennotierte Unternehmen investieren oder die Unternehmen beraten. Eine Insolvenz wie bei Wirecard bedeutet einen Umsatz von null. Keiner sägt gerne den Ast ab, auf dem er sitzt.
Könnte jemand das Unternehmen protegiert haben?
Ob jemand im Hintergrund schützend die Hand über das Unternehmen gehalten hat, weiß ich nicht. Ich schließe in Sachen Wirecard aber auch das nicht aus.
Gegen Wirecard haben Shortseller wie Sie jahrelang den Kürzeren gezogen. Wie ist Wirecard dabei verfahren?
Ich weiß nicht, ob andere auch ungebetenen Besuch hatten. Wirecard engagierte aber Anwälte, Forensiker, Datenspezialisten und Gutachter mit dem Ziel, Kritiker als Lügner und Kursmanipulateure darzustellen. Wirecard stellte 2008 auch Strafanzeige wegen Kursmanipulation gegen mich. Vertreter des Unternehmens hatten danach regen Austausch mit den Staatsanwälten, die gegen mich ermittelten. Einmal reichten sie einen minutiösen Tatplan bei der Staatsanwaltschaft ein, der ihnen angeblich anonym zugegangen ist. Darin planen Leute, die sich nachweislich gar nicht kennen, den Aktienkurs gezielt zu drücken. Da vermutete sogar die Staatsanwaltschaft, dass das eine Fälschung sein könnte. Wirecard kam dennoch damit durch. Ich weiß, dass ich 2015 noch ausspioniert worden bin. Von solchen Methoden berichten auch andere. Wirecard muss eine richtige Maschinerie aufgebaut haben.
Es gibt viele Vorbehalte gegen Shortseller wie Sie. Unter anderem, dass sie vom Misserfolg von Unternehmen profitieren. Warum halten Sie Leerverkäufer für den Kapitalmarkt für wichtig?
Es gibt niemanden, der Unternehmen kritischer analysiert als ein Shortseller. Auch Journalisten nicht, Dan McCrum von der "Financial Times" (FT) ist eine absolute Ausnahme. Der Grund ist Geld. Es ist viel Arbeit, einen Betrug aufzudecken. Dafür gibt es keinen Lohn und für die FT wird sich die Wirecard-Geschichte finanziell wahrscheinlich nie amortisieren. Ich habe unter anderem 2008 den Bilanzbetrug der Thielert AG mit aufgedeckt. Der Vorstandschef hatte jahrelang mit frei erfundenen Rechnungen seinen Gewinn nach oben manipuliert - ohne dass der Wirtschaftsprüfer etwas davon gemerkt haben will. Um den Betrug beweisen zu können, habe ich knapp zwei Jahre recherchiert. Und dann habe ich über eine Shortposition auf die Aktie Geld verdient.
Viele halten das für unmoralisch. Was sagen Sie denen?
Unmoralisch ist es, wenn wie bei Wirecard ein Aktienkurs durch Bilanzbetrug und illegale Umsätze künstlich nach oben getrieben wird. Meine Aufgabe als Shortseller ist es, solche Machenschaften aufzudecken. Klar, dann fällt der Kurs und ich mache Gewinn. Aber wie kann es unmoralisch sein, einen Betrug aufzudecken? Shortseller bewahren Anleger dadurch vor noch größeren Verlusten. Im Frühjahr 2010 lag der Börsenwert von Wirecard nur bei etwas mehr als einer Milliarde Euro. Wäre der Betrug schon damals aufgeflogen, wäre ein Börsenwert von mehr als 20 Milliarden Euro niemals erreicht worden und Anleger hätten insgesamt nicht solche immensen Verluste gemacht. Es ist natürlich unmoralisch und kriminell, wenn falsche Gerüchte gestreut werden, um Aktienkurse zu beeinflussen. Das kommt aber in der Praxis kaum vor: Unwahrheiten können vom Unternehmen schnell entkräftet werden. Selbst wenn die Vorwürfe stimmen, haben die Unternehmen die Möglichkeit, Fehler zu korrigieren, ohne großen Schaden zu erleiden. In den USA oder Großbritannien finden im Gegensatz zu Deutschland die Aktienanalysen und Einschätzungen von Shortsellern große Beachtung. Ich selbst habe immer nach Fakten und Beweisen gesucht.
Trotzdem haben Sie 2012 die Kursmanipulation von Aktien in 47 Fällen vor Gericht gestanden - und sind verurteilt worden. Wie kam das?
Dabei ging es nicht um Kursmanipulation durch Falschinformationen. In meinem Urteil wurde sogar explizit festgehalten, dass ich nie Falschinformationen verbreitet habe.
Aber Sie wurden verurteilt. Wofür denn dann?
Ich war in den Jahren 2005 und 2006 an Veröffentlichungen eines Geschäftspartners, der Börsenbriefe herausgab, beteiligt. Als aktiver Investor lieferte ich oft Informationen über Aktientitel, die ich teils selbst besaß. In diesem Fall hätte ein Risikohinweis den Leser darüber informieren müssen, dass Mitwirkende des Artikels die Aktien selbst halten. Der bestehende Hinweis ging dem Gericht allerdings nicht weit genug. Für 47 Fälle - die 47 Publikationen entsprechen - bin ich nach meinem Geständnis verurteilt worden ...
… zu 36 Monaten Haft und einer Geldstrafe von 127.000 Euro. Nach dem Urteil haben sich einige gefragt, warum Sie sofort und bereits nach 18 Monaten freigekommen sind.
Nach 18 Monaten in Untersuchungshaft ging es mir schlecht. Ich wollte nur noch raus, zu meiner Familie. Die 47 Fälle standen noch zur Verhandlung aus, das hätte Monate gedauert. Die Staatsanwaltschaft bot mir damals die Freilassung gegen mein Geständnis an. Diesen Deal bin ich eingegangen. Obwohl ich in den Bafin-Gutachten zu den offenen Fällen rund 150 Fehler gefunden hatte.
Was für Fehler waren das?
Mittels einer einfachen Google-Suche finden sich heute noch zeitgleich publizierte Aktienanalysen und Kaufempfehlungen anderer Börsenbriefe, die damals nicht in die Gutachten der Bafin im Auftrag der Staatsanwaltschaft eingeflossen sind. Diese Publikationen dürften auch Auswirkungen auf den Kurs gehabt haben. Dabei sollten die Gutachten andere Einflüsse außer die unserer Börsenbriefe ausschließen. Zudem sind Ad-hoc-Mitteilungen der Unternehmen oder Investorenkonferenzen nicht beachtet worden. In einem Fall haben die Gutachter zwar den Eröffnungskurs des richtigen Tages, aber den Schlusskurs des Tages darauf genommen. Tatsächlich fiel der Kurs nachweislich an diesem Tag um 4,41 Prozent - trotz Kaufempfehlung des Börsenbriefs, an dem ich mitgewirkt hatte.
Was, glauben Sie, hat Ihre Verurteilung für Wirecard bedeutet?
Wegen Wirecard wurde ich nicht verurteilt, aber Wirecard hat damals gelernt, wie einfach es ist, Kritiker mithilfe der Behörden stumm zu schalten. Wirecard hatte die Behörden schließlich so gut im Griff, dass die Anfang 2019 nach weiteren Berichten der FT über massive Ungereimtheiten bei Wirecard-Geschäften in Asien sogar ein Shortseller-Verbot wegen der Gefahr der Kursmanipulation ausgesprochen haben - anstatt den Hinweisen einfach mal nachzugehen.
Mit Tobias Bosler sprach Birgit Haas
Dieses Interview erschien zuerst am 22. Juli bei Capital.de
Quelle: ntv.de
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