ntv.de: Stimmen Sie der Vision von Yuval Harari zu, dass unsere Erben "gottgleich" sein werden?
Christiane Woopen: Ich glaube nicht, dass der Mensch jemals "gottgleich" sein wird. Jetzt müssen wir uns natürlich darüber unterhalten, was man unter Gott versteht. Ich verstehe darunter etwas anderes als Harari. Es steht aber außer Frage, dass wir uns technologisch weiter entwickeln und als Menschen entscheiden müssen, auf welche Weise wir dies tun. Ein besonders extremes Beispiel ist vielleicht Ishiguro Hiroshi, ein japanischen Forscher. Er hat eine Vision entworfen, in der der Mensch in Zehntausenden von Jahren die organische Substanz durch anorganische ersetzen wird und in einem zweiten Schritt auch das Gehirn durch einen Computer. Er spricht von einem anorganischen intelligenten Leben, und hält das für eine konsequente Weiterentwicklung der Evolution, auch wenn uns das dystopisch erscheint. Deshalb müssen wir schon jetzt darüber nachdenken, in welcher Weise wir die Technik einsetzen wollen.
Wäre ein Mensch aus anorganischen Materialien noch ein Mensch?
Das kommt darauf an, wie wir "Mensch" definieren. Wenn wir sagen, dass Gott derjenige ist, aus dem heraus alles entstanden ist, dann wird der Mensch niemals an diesen Punkt kommen.
Milliardäre und Superreiche nutzen schon heute Bluttransfusionen, um langsamer zu altern. Neuralink, ein weiteres Unternehmen von Elon Musk, arbeitet daran, im menschlichen Gehirn eine Art Schnittstelle zu schaffen, damit wir uns mit Computern verbinden können. Laufen diejenigen, die sich so etwas leisten können, bald als unsterbliche Supermenschen auf der Erde herum?
Es gibt diese sogenannte Enhancement-Debatte schon seit einigen Jahren, bei der es darum geht, menschliche Funktionen über das normale Maß hinaus zu steigern. Dazu gehören alle menschlichen Funktionen, und auch die Gefühle. Manche denken sogar an das moralische Urteil. Solche optimierten Funktionen können zu einem Machtgewinn beitragen, und wir sollten diese nicht nur denjenigen überlassen, die die Entwicklung mit ihren finanziellen Möglichkeiten vorantreiben. Deshalb sollten wir überlegen, ob wir den Einsatz dieser Technologien regulieren.
Wir können einem Milliardär schlecht verbieten, dass er privat in diese Richtung forscht.
Forschung und Wissenschaft kann und sollte man nicht verbieten. Die Frage ist, ob man den Einsatz und die Anwendung der Produkte unter bestimmte Voraussetzungen stellt. Wenn man Medikamente entwickelt, kann man die auch nicht einfach beliebig einsetzen, sondern sie unterliegen Regularien. Das lässt sich mit technischen Produkten, die ein systematisches Problem für die Gesellschaft darstellen können, selbstverständlich auch lösen.
Und wie stellt man sicher, dass diese Regularien eingehalten werden? Es hat den Anschein, dass bestimmte Regeln schon heute für sehr reiche Menschen nicht mehr gelten.
Die Regeln gelten für alle. Vor allem müssen wir über soziale Ungleichheit sprechen, das ist allerdings ein komplexes Konzept. Wir sehen etwa in der Corona-Pandemie, dass diejenigen, denen es ohnehin nicht gut geht, und die zu den sozioökonomisch schwächeren Schichten gehören, am härtesten von der Pandemie getroffen werden. Über solche Gerechtigkeitsfragen können wir schon jetzt nachdenken - auch im globalen Kontext.
Wenn man an Technologien denkt, sehen wir, dass ein Verbot in einem Land dazu führt, dass derjenige vielleicht einfach in ein anderes Land fährt und es dort in Anspruch nimmt. Auch in Bereichen wie der Gen-Editierung, also der Gen-Schere Crispr Cas, haben wir es fast immer mit globalen Problemen zu tun. Das heißt, wir müssen internationale Strukturen und Prozesse fördern, mit denen bestimmt wird, wie wir mit diesen Dingen umgehen wollen.
Aber sehen wir nicht heute schon, dass es eben nicht funktioniert? Sie haben es selbst angesprochen: Wenn mir die Regeln in einem Land nicht passen, gehe ich in ein anderes.
Die gesellschaftlichen Konflikte, die in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten auch in globalen Kontexten entstanden sind, entwickeln sich ständig weiter und erfordern eine ständige Debatte. Ich glaube nicht, dass man irgendwann einen Punkt erreicht, an dem man eine gute Lösung gefunden hat, die von allen akzeptiert wird und die für alle gilt. Dafür ist der Mensch, dafür sind die gesellschaftlichen Systeme viel zu komplex. Aber das heißt nicht, dass man es nicht versuchen muss. Unser Leben ist eine Gestaltungsaufgabe, die müssen wir jeden Tag von neuem angehen.
Beim Blick auf die Menschheitsgeschichte fallen zuerst die schlechten Beispiele auf. Wo immer es ging, wurde Macht missbraucht. Wieso sollte jemand auf übernatürliche Fähigkeiten verzichten oder darauf, 200 Jahre alt zu werden?
Man kann die Geschichte auf zwei Weisen erzählen. Man kann sie in dem Sinne betrachten, dass zunehmend große Probleme entstanden sind, die eine Bedrohung für die Menschheit sein können. Man kann sie aber auch als eine Geschichte erzählen, in der Demokratie und Freiheit und Menschenrechte entstanden sind. Wo ein Europa entstanden ist, das von einer Friedensgemeinschaft zu einer Wirtschafts- und dann Wertegemeinschaft wurde. Wo wir eine Charta der Grundrechte und menschlichen Freiheiten haben, auf die Bezug genommen wird und auf die auch die politischen Ausgestaltungen im europäischen Rahmen Bezug nehmen. Die sind alle nicht perfekt, aber man kann die Menschheitsgeschichte eben auch als Zunahme von Freiheit sehen. Ob wir mit dieser Freiheit immer gut umgehen? Das kann man bezweifeln. Das heißt aber nicht, dass wir sie aufgeben sollten oder dass es sich nicht lohnt, weiter darum zu kämpfen.
Sie blicken erstaunlich positiv in die Zukunft.
Ich sehe beide Möglichkeiten. Ich sehe die Möglichkeit, dass die Menschheit versagt, die Probleme verkennt und sich der Verantwortung nicht gerecht wird. Ich sehe aber auch die Möglichkeit, dass wir eine gute gemeinsame Zukunft gestalten und Fortschritte für das Gemeinwohl machen.
Was wäre Voraussetzung für eine "gute" gesellschaftliche Zukunft, in der medizinischer und technologischer Fortschritt geteilt wird?
Für mich ist der zentrale Ansatzpunkt die Bildung. Nicht in dem Verständnis, dass man Informationen in Menschen hineinstopft, sondern dass man ihnen Räume eröffnet, in denen sie auf der Grundlage von Informationen eigenes Wissen entwickeln können und sich existenziell mit den Fragestellungen auseinandersetzen können, sodass sie in der Lage sind, damit kritisch und reflektiert umzugehen. Nur dann können wir eine gesellschaftliche Debatte gestalten, und die herausragenden Probleme der Menschheit - etwa den Klimawandel, vielleicht die nächste Pandemie - so lösen, dass sie wirklich dem Gemeinwohl dienen.
Viele dieser Probleme werden mittlerweile von Milliardären und privaten Unternehmen gelöst. Spricht das nicht auch dafür, dass unsere politischen Systeme, so wie wir sie kennen, nicht für die kommenden Herausforderungen gerüstet sind?
Die Digitalisierung hat ein paar Unternehmen an die Spitze geführt und ihnen eine sowohl finanzielle als auch technologische Macht verliehen, die zu einem Ungleichgewicht geführt hat, das so nicht länger aufrechterhalten werden sollte. Wir sehen das an vielen politischen Kämpfen, in Europa zum Beispiel bei der Datenschutzgrundverordnung. Wir sehen es auch an der Technologieentwicklung. Da haben Apple und Google uns in Europa geradewegs diktiert, in welcher technologischen Weise die Corona-Warn-App umgesetzt werden muss, weil wir nicht die Kapazitäten dafür haben, und weil wir auf diese Geräte und die Schnittstellen angewiesen sind, die sich breitflächig verbreitet haben. Aber das heißt noch lange nicht, dass das so bleiben muss. Europa kann sich auf den Weg machen, digital souverän zu werden. Vielleicht auch auf eine Art und Weise, die sich vom amerikanischen oder chinesischen Modell unterscheidet. Es liegt an uns, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass das Zusammenspiel von Kapital und Politik wieder dem Gemeinwohl dient.
Es dürfte schwer werden, den Menschen zu erklären, dass sie bitte nicht mehr Google und Apple benutzen sollen ...
Ich glaube auch nicht, dass es eine gute Lösung wäre, wenn Europa einfach versucht, ein anderes Google oder ein anderes Apple aufzubauen. Wir brauchen ganz andere Ideen. Bei aller Facebook- und Whatsapp-Nutzung wächst ja das Bewusstsein bei den Menschen, dass hier Machtverhältnisse entstehen, bei denen ihnen nicht wohl ist. Ich sehe durchaus eine Bereitschaft, bei guten Modellen mitzumachen, die diese Entwicklung in eine gute Richtung lenken.
Mit Christiane Woopen sprach Christian Herrmann
Quelle: ntv.de
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