USA treten in neue Pandemie-Phase

  29 Juli 2020    Gelesen: 431
USA treten in neue Pandemie-Phase

Jenseits des Atlantiks zeichnet sich eine bemerkenswerte Entwicklung ab. Zum ersten Mal seit Wochen schwächt sich der Anstieg der US-Fallzahlen ab. Ist das die erhoffte Trendwende? Oder droht den Amerikanern nach einer kurzen Atempause Schlimmeres?

Weniger als 100 Tage vor dem Wahltag stehen die Chancen auf eine zweite Amtszeit für Donald Trump denkbar schlecht: Die Corona-Krise hat das Land fest im Griff, die Wirtschaft leidet, in mehreren US-Bundesstaaten drohen Pandemie-bedingte Ausnahmezustände wie in New York City. Kein anderes Thema des laufenden Präsidentschaftswahlkampfes bedrängt die Menschen im Land so intensiv wie die Pandemie und ihre Folgen. Viele stellen sich auch die Frage, warum es ausgerechnet die Vereinigten Staaten - die reichste und stärkste Nation der Erde - so viel schlimmer trifft als alle anderen Weltregionen.

Und Trumps Bilanz als Krisenmanager der Covid-19-Bedrohung ist gespickt mit groben Fehlentscheidungen und irreführenden Verharmlosungen und überschattet von einem insgesamt verheerenden Führungsversagen. Unvergessen sind seine haltlosen Prognosen, das Virus werde "auf wundersame Weise verschwinden" und sein Drängen auf eine rasche Aufhebung der Corona-Auflagen.

In den Wochen nach dem Abflauen der ersten Welle kletterte die Zahl der Ansteckungsfälle in zahlreichen, bis dahin kaum betroffenen US-Regionen steil in die Höhe. Gemessen an der absoluten Anzahl an Coronavirus-Fällen haben mittlerweile Kalifornien und zuletzt auch Florida den Großraum New York bereits überholt. In vielen Regionen werden die Klinikbetten knapp.

Inmitten dieser düsteren Gesamtlage ist in den US-Daten jedoch seit ein paar Tagen ein Hoffnungsschimmer erkennbar: Der Anstieg bei den neu nachgewiesenen Fällen schwächt sich ab. Seit gut einer Woche steigt die Zahl der landesweit gemeldeten Neuinfektionen nicht mehr an.

Im siebentägigen Mittel bewegt sich die Trendlinie sogar wieder leicht nach unten. Zuletzt wurden im Schnitt nur noch etwas mehr 65.300 neue Fälle pro Tag registriert. Auch die 7-Tage-Inzidenz fällt leicht, wenngleich sie weiterhin deutlich über der in Deutschland als Maßstab dienenden Obergrenze von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen liegt.

Das sind zwar immer noch mehr als doppelt so viele Neuinfektionen pro Tag wie während des Höhepunktes der ersten Pandemie-Welle im April. Aber immerhin scheint die Dynamik eines außer Kontrolle geratenen Infektionsgeschehens zumindest gebremst. Zuvor war diese wichtigste Kennziffer zur Virus-Lage mehr als einen Monat lang Tag für Tag immer weiter angestiegen. Der leichte Rückgang vom Wochenstart ist der erste greifbare Anhaltspunkt für die erhoffte Trendwende: Bekommen die betroffenen Staaten den Anstieg unter Kontrolle?

Wenn sich die Bewegungen in den Daten in den kommenden Tagen fortsetzt, dann könnte diese Entwicklung den Beginn einer neuen Pandemiephase markieren. Noch ist allerdings unklar, ob es sich wirklich um eine echte Trendwende oder nur eine kurze Atempause handelt. Ganz anders als in vielen anderen Staaten konnten die Fallzahlen nach der ersten Welle in den USA nie richtig eingedämmt werden. Stattdessen hielten sich die Neuinfektionen wochenlang auf hohem Niveau - bis die Plateauphase in einen neuerlichen Anstieg mündete.

Offen ist außerdem noch, worauf genau sich die jüngste Abschwächung zurückführen lässt. Mit Blick auf die Daten aus Arizona, Texas und Florida sprach US-Gesundheitsminister Alex Azar davon, dass die Menschen dort offenbar den Ernst der Lage erkannt hätten und sich "der Herausforderung stellen". In Florida etwa begann sich die Kurve bereits vor knapp zehn Tagen abzuflachen. Den Daten der "New York Times" zufolge erreichte der 7-Tage-Schnitt seinen vorläufigen Höhepunkt zwischen dem 16. und 18. Juli mit rund 11.800 Neuinfektionen pro Tag.

"Das liegt daran", sagte Trumps Mann an der Spitze des Gesundheitsministeriums, "dass die Leute jetzt tatsächlich Masken tragen. Sie tragen ihren Mund-Nase-Schutz, sie halten sich an das Gebot der sozialen Distanzierung, und sie befolgen die Hygieneregeln", fasste Azar die Lage zusammen. Sie tun also all das, wozu sich der US-Präsident selbst erst im Juli durchringen konnte: Erst am 12. Juli 2020 hatte sich Trump erstmals öffentlich mit einer Maske gezeigt - und später sogar für das Tragen von Masken geworben, was Experten freilich schon vor Monaten gefordert hatten.

Auf der sicheren Seite sind diese Hotspot-Staaten damit jedoch noch lange nicht. Florida etwa verzeichnet im 7-Tage-Schnitt weiterhin noch mehr als 10.000 neue Ansteckungen am Tag. Zum Vergleich: In Deutschland lag diese Zahl zu keinem Zeitpunkt über 6500 Fällen. Dabei zählt Florida nur rund ein Viertel so viele Einwohner. Und während Florida, Texas und Arizona erste Erfolge bei der Eindämmung des Erregers vermelden können, ziehen die Fallzahlen in anderen Bundesstaaten weiter ungebremst an.

Damit ist es also gut möglich, dass sich das Infektionsgeschehen nur kurzfristig verlangsamt, während sich die Pandemie-Schwerpunkte im Inneren der USA auf andere, bislang weniger hart getroffene Räume verlagern. Der im Mittleren Westen gelegene US-Bundesstaat Oklahoma etwa musste zuletzt ein neues Allzeithoch bei den neu entdeckten Infektionsfällen melden.

Noch liegen die Fallzahlen dort in vergleichsweise überschaubaren Bereichen. Eine Ausweitung der Ansteckungswelle speziell in Oklahoma jedoch könnte Trump als dunkler Schatten noch lange verfolgen: Es ist nämlich nicht unwahrscheinlich, dass er eine persönliche Mitschuld daran trägt. Denn am 20. Juni hatte er seine Anhänger nach Tulsa, der zweitgrößten Stadt des Bundesstaats, zu seinem viel beachteten Wahlkampfauftakt eingeladen. Trotz massiver Kritik von allen Seiten hielt Trump an dem Vorhaben fest.

Das Ereignis ist gut dokumentiert: Wie auf Bildern aus Tulsa zu sehen ist, trugen auch im Inneren des Veranstaltungsorts, einer Sporthalle, nur wenige Teilnehmer Masken oder hielten ausreichend Abstand. Trump selbst machte sich während seines Auftritts über die Pandemie mit Begriffen wie "Chinese Virus" oder "Kung Flu" lustig und erklärte, er habe "seine Leute angewiesen", weniger zu testen, um die Zahlen künstlich niedrig zu halten - was das Weiße Haus kurz darauf hektisch dementierte.

Mehrfach verbreitete Trump in den letzten Wochen die falsche Behauptung, viele Tests würden zwangsläufig zu mehr positiven Fällen führen. Tatsächlich ist ein starker Anstieg positiver Tests bei einem erhöhten Testvolumen ein Indiz dafür, dass zuvor zu wenig getestet wurde oder immer noch zu wenig getestet wird. Erst wenn bei steigenden Testzahlen weniger positive Befunde zurückkommen, entwickeln sich die Dinge in die richtige Richtung.

Selbst während seines ersten offiziellen Corona-Briefings seit April, das Trump in der Vorwoche ohne seine Top-Experten Anthony Fauci und Deborah Birx abhielt, las der US-Präsident zwar zunächst von seinem Skript den Satz ab: "Es wird wahrscheinlich, unglücklicherweise, erst schlechter werden bevor es besser wird." Minuten später wiederholte er jedoch in freier Rede sein altes Mantra: "Das Virus wird verschwinden. Es wird verschwinden."

Dass das ohne rationale Pandemie-Strategie und koordinierte Maßnahmen nicht passieren wird, kann Trump an den katastrophalen Zahlen ebenso wie an immer neuen Infektionsfällen in seinem engeren Umfeld ablesen. Wenige Tage nach Trumps Auftritt in Tulsa wurden nicht nur Ansteckungen bei mehreren Besuchern der Veranstaltung nachgewiesen, sondern auch bei mindestens zwei Agenten des Secret Service, mehreren Mitarbeitern von Trumps Kampagne sowie der Freundin von Donald Trump Junior.

Ob sie sich tatsächlich vor Ort ansteckten - oder vor Ort andere ansteckten, ist noch ungeklärt. Sicher jedoch ist, dass sich das Virus seitdem in Oklahoma weiter ausbreitet. Selbst der Gouverneur des Bundesstaats, der Republikaner Kevin Stitt, musste Mitte Juli einräumen, dass er sich mit dem Coronavirus angesteckt hat. Auch das Weiße Haus ist nicht mehr sicher: Ende Juli wurde bekannt, dass Trumps Nationaler Sicherheitsberater Robert O'Brien ebenfalls infiziert ist.

Mit Blick auf die steigenden Fallzahlen in Tulsa hält die örtliche Gesundheitsbehörde einen Zusammenhang mit der Wahlkampfveranstaltung für "mehr als wahrscheinlich". Trumps muss seine Pläne für einen rauschenden Wahlkampf mit umjubelten Auftritten inmitten begeisterter Massen notgedrungen begraben. Und Oklahoma ist nur einer von vielen US-Bundesstaaten, in denen die Pandemie derzeit an Dynamik gewinnt. Steigende Fallzahlen auf bislang noch niedrigem Niveau zeigen sich auch in den weniger bevölkerungsreichen Staaten wie New Mexico, Virginia, Missouri, Tennessee und selbst im ländlich geprägten Idaho sowie im fernen Alaska.

Als Indikator für die Infektionsdynamik lässt sich der Vergleich des aktuellen Sieben-Tage-Schnitts der täglichen Neuinfektionen mit dem Schnitt der Vorwoche heranziehen. In den USA weisen aktuell noch 34 der 55 US-Gebiete eine deutliche Zunahme auf. Die stärksten Anstiege gibt es derzeit in Alaska (+219,4 Prozent), Hawaii (+112,8 Prozent), New Jersey (+90,4 Prozent), Connecticut (+70,3 Prozent) und Oklahoma (+51,4 Prozent). In Kalifornien (+4,1 Prozent) deutet sich derweil eine mögliche Trendumkehr an, die in den laut absoluter Fallzahlen ähnlich stark betroffenen Bundesstaaten Florida (-7,2 Prozent) und Texas (-22,3 Prozent) schon deutlicher zu Tage tritt.

Die Erfolge in den bisherigen Brennpunkten könnten den USA daher tatsächlich eine kurze Atempause verschaffen. Sicher bestimmen lässt sich die Gesamtentwicklung jedoch erst mit einigen Tagen Abstand. Schließlich können Schwankungen in den Meldedaten, gerade mit Blick auf Wochenendeffekte, kurzfristige Bewegungen leicht überdecken.

Sicher jedoch hat die beobachtete Abflachung der Kurve nichts mit dem Skandal um die Ausgrenzung der US-Seuchenkontrollzentren CDC zu tun. In einer Aufsehen erregenden Entscheidung hatte das Gesundheitsministerium in Washington, D.C. vergangene Woche die komplette Auswertung der Krankenhausdaten aus allen Landesteilen an sich gezogen. Die Rolle der CDC als international anerkannten Instanz in der Seuchenabwehr wird damit weiter geschwächt.

Inmitten der Pandemie müssen US-Ärzte und Klinikmanager ihre Angaben zu Patientendaten, Bettenauslastung und verfügbaren Beatmungskapazitäten seitdem nicht mehr wie üblich an die Epidemie-erprobte CDC melden, sondern in ein kurzfristig eingerichtetes Datenbank-System namens "HHS Protect" eingeben. Die gesammelten Coronavirus-Daten werden damit künftig von einem privaten Dienstleister betreut.

Auf das Meldeverfahren neu entdeckter Coronavirus-Fälle hat diese Entscheidung der US-Regierung jedoch keinen Einfluss: In der ntv-Auswertung stützen sich Karten und Infografiken zur Lage in den USA vornehmlich auf Datensätze der "New York Times", die mit einem ganzen Team aus Reportern und Spezialisten die Meldungen lokaler und regionaler Stellen verfolgt. Damit sind diese Daten weitgehend unabhängig von der offiziellen Statistik der US-Regierung.

Quelle: ntv.de


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