Nach neun Stunden schien das Abenteuer Ärmelkanal vorbei. Eileen Fenton war noch eine Stunde von Dover entfernt, die damals 22-Jährige konnte die englische Hafenstadt und den Shakespeare Beach bereits vor sich sehen, als sie sich von einem Begleitboot aus etwas zu trinken geben ließ.
Sie stärkte sich für die letzten Meilen, es war ja nun nicht mehr weit, doch als sie den Becher zurück ins Boot warf, zog es plötzlich in der rechten Schulter. Sie kraulte weiter, aber die Schmerzen waren zu groß. Ihr Trainer sagte: "Nun, das war's dann wohl." Fenton aber sagte ihm und sich: "Nein, das war es nicht", nahm den rechten Arm vor die Brust und schwamm mit dem linken weiter.
Sechs Stunden später kroch sie ans rettende Ufer. Als erste Frau von ohnehin nur neun Schwimmern, die an jenem 22. August 1950 das Ärmelkanalschwimmen geschafft haben.
Zuschauermagnet Kanalschwimmen
Eileen Fenton war elf Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg ausbrach - und damit auch ihre Leidenschaft zum Erliegen kam. "Ich war eine ziemlich gute Schwimmerin, aber nun gab es keinen Wettkampf mehr, alles wurde auf Eis gelegt", erinnert sich die 92-Jährige im Telefonat mit dem SPIEGEL. "Und als der Krieg dann vorbei war, war es Zeit für mich, aufs College zu gehen." Sie schwamm zwar weiter, aber für Wettkämpfe war auch jetzt keine Zeit.
Kanalschwimmen war in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts ein Zuschauermagnet. Zu Tausenden strömten die Menschen an die Küsten, um jene verrückten Männer und Frauen zu bestaunen, die den Sprung ins Ungewisse wagten. Presse, Funk und Film berichteten, 1950 richtete die "Daily Mail" ihr erstes eigenes internationales Ärmelkanalrennen aus. Als Fenton davon erfuhr, war klar: Das war ihre Chance. Sie wollte dabei sein, wenn 24 Schwimmer aus zwölf Ländern sich am Cap Gris-Nez zwischen Calais und Boulogne in die Fluten begeben, um den Kanal an der mit rund 33 Kilometern schmalsten Stelle zu durchqueren.
Doch Fenton war gerade einmal 1,50 Meter groß, keine 50 Kilogramm schwer - die Veranstalter des Rennens waren von der körperlichen Unterlegenheit der Lehrerin aus Dewsbury, West Yorkshire, überzeugt. "Sie sagten mir: Das können Sie unmöglich schaffen." Eine Antwort, die Fenton nicht akzeptieren wollte. Also fuhr sie kurzerhand nach London, wo sie den Verantwortlichen vorschwamm. Ja, sie schwimme gut, das gestanden sie der jungen Frau zu. Aber nein, der Kanal, die Strömung, die Kälte. Unmöglich!
Fenton drängelte weiter. Und bekam die Chance, sich durch einen Kältetest zu beweisen. "Es war April, das Wetter war schlecht, das Wasser war eisig, mein Kopf schmerzte, aber ich wusste: Ich kann es nicht ändern, ich muss es schaffen, also brachte ich es zu Ende. Und sie sagten: Na gut, du bist dabei."
Fenton wusste nichts über Freiwassertraining. Aber sie wusste: "Ich muss lange schwimmen und mich ans kalte Wasser gewöhnen." Also ging sie jeden Sonntag im 25-Yards-Pool (knapp 23 Meter) des städtischen Schwimmbads trainieren, bis zu zehn Stunden am Stück. Ganz Dewsbury nahm Anteil an ihrer Mission, hatte die Stadt doch für das Startgeld gesammelt. Irgendjemand schwamm immer neben ihr, meist war es ihre Mutter. "Mit ihr habe ich an meiner Schnelligkeit gearbeitet", sagt Fenton: Hat die Mutter eine Bahn geschafft, sollten es bei ihrer Tochter zwei sein.
An die Kälte tastete sich Fenton später im zwei Stunden entfernten Scarborough an der Nordseeküste heran. "Freitags nach der Schule bin ich dort hingefahren, war samstagmorgens drei Stunden im Wasser, samstagnachmittags zwei Stunden und sonntags noch mal drei Stunden, bevor ich dann mit dem Bus wieder heimgefahren bin."
Als der Tag gekommen war, standen die Wetten 10:1 gegen die mit Abstand kleinste Starterin. Eingerieben mit einer dicken Schicht Wollfett gegen die Kälte kraulte Eileen Fenton los. Neoprenanzüge oder andere Hilfsmittel als Badeanzug, -kappe und Schwimmbrille waren nicht erlaubt. Und sind es nach offiziellen Regeln der Channel Swimming Association bis heute nicht. Zu Recht, findet Fenton, die Kälte sei schließlich das Einzige, was die Schwimmer von der Kanalüberquerung abhält.
Damit die Schwimmer die englische Küste im Tageslicht erreichen konnten, begann das Rennen um zwei Uhr nachts. Stundenlang kraulte Fenton durch die Nacht, alles um sie herum war schwarz, nur eine kleine Laterne an einem Ruderboot vor ihr wies den Weg. "Das war schon etwas beängstigend, denn du wusstest ja nicht, was da so neben dir schwimmt." Nach einer Weile war sie in dieser meditativen Ruhe, die sie sich im Schwimmbad antrainiert hatte. "Es war wirklich ziemlich schön die ersten sieben Stunden."
Die eigentliche Odyssee sollte erst noch beginnen.
"Nach neun Stunden haben sie mir etwas zu trinken gegeben und sagten: Wenn du so weiter schwimmst, bist du in einer Stunde da - dann zerrte ich mir die Schulter", erinnert sich Fenton an jenen Moment, der für ihre Begleiter das Ende einer ohnehin wahnwitzigen Mission einläutete. Denn nun trieb eine starke Strömung die mit Schmerzen kämpfende Schwimmerin auch noch gen Westen ab. Weg von Dover und dem Shakespeare Beach, hin zur Küste von Folkestone. Für Fenton war dennoch klar: "So lange ich nicht bewusstlos werde, gebe ich nicht auf!"
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