Wie die Verkehrswende der Grünen scheitert

  24 Auqust 2020    Gelesen: 537
Wie die Verkehrswende der Grünen scheitert

Die Grünen machen Politik für Menschen, die ganz umweltfreundlich mit dem Rad fahren - könnte man meinen. In Berlin hat die Partei eine Verkehrswende angekündigt, sogar ein eigenes Mobilitätsgesetz verabschiedet. Doch passiert ist bisher wenig.

Im Bundestagswahlkampf der Grünen wird es vermutlich eines der großen Themen werden: die Mobilität der Zukunft. Die Partei setzt sich für den öffentlichen Nahverkehr, mehr E-Mobilität, Car-Sharing, für weniger "klassischen" Autoverkehr und vor allem für einen Ausbau der Fahrradinfrastruktur ein. In der Hauptstadt haben die Grünen, seit sie Ende 2016 eine Koalition mit SPD und der Partei Die Linke eingegangen sind, die Verkehrswende bereits eingeläutet. In der Koalitionsvereinbarung deutete sich damals vor allem hinsichtlich des Radverkehrs eine Revolution an. Radwege sollten massiv modernisiert und ausgebaut werden. Es war die Rede von zwei Meter breiten Radstreifen entlang des gesamten Hauptstraßennetzes, einem Netz aus reinen Fahrradstraßen, dem Umbau der für Radfahrer gefährlichsten Kreuzungen und Radschnellwegen mit einer Länge von rund 100 Kilometern. Doch was hat sich seit 2016 für Radfahrer wirklich verbessert?

Der Fairness halber soll eingangs erwähnt werden, dass Stadtplaner insbesondere in Berlin über Jahrzehnte den Ansatz der "autogerechten Stadt" verfolgt haben. Das Automobil rückte wie auch in vielen Großstädten Westdeutschlands in den Nachkriegsjahren ins Zentrum der Verkehrsplanung. Andere Verkehrsmittel hatten sich dem unterzuordnen. Das Konzept gilt zwar inzwischen als gescheitert, doch die Nachwirkungen stellen eine radfreundliche Stadtplanung vor andere Herausforderungen als das in deutlich kleineren Städten der Fall ist, in denen früher weniger radikal für das Auto geplant wurde, und die heute als Vorreiter bei der Fahrradmobilität gelten - etwa Göttingen, Münster oder Oldenburg.

99,2 Kilometer Radwege in dreieinhalb Jahren

Was ist etwa aus dem Vorsatz geworden, entlang der Hauptstraßen zwei Meter breite Radwege zu errichten? Lange wurden die entlang der wichtigen Verkehrsverbindungen in Form eines 80 Zentimeter breiten Streifens angelegt, der wahlweise auf dem Bürgersteig oder neben Parkplätzen verlief. Wegen gefährlicher Begegnungen mit Fußgängern beziehungsweise sich öffnenden Fahrzeugtüren ist diese Lösung aus Sicht von Unfallforschern jedoch längst nicht mehr zeitgemäß. Der Senat hat den Vorsatz am 1. Januar 2018 zu einem Gesetz gemacht. "An allen Hauptverkehrsstraßen", heißt es in Paragraf 43 des Berliner Mobilitätsgesetzes, "sollen Radverkehrsanlagen (…) in sicherem Abstand zu parkenden Fahrzeugen (…) eingerichtet werden". Außerdem steht dort: Die Anlagen sollen so breit sein, dass sich Radfahrer überholen und keine Autos sie befahren können. Kein anderes Bundesland hat ein Gesetz, das derartig großzügige Radwege definiert und in einem solchen Umfang fordert. Denn nach Angaben der Stadt haben die Hauptverkehrsstraßen in Berlin eine Gesamtlänge von rund 1500 Kilometern.

Passiert ist nicht viel. Mitte Juli erhielt der Berliner SPD-Abgeordnete Sven Kohlmeier vom Senat Antwort auf zwei Anfragen, in denen er sich nach dem Stand des Ausbaus des Radwegenetzes erkundete. Insgesamt nur 99,2 Kilometer seien seit dem 1. Januar 2017 bis Ende Mai 2020 gebaut worden, heißt es darin. Rund 21,5 Kilometer davon sind demnach sogenannte "PopUp", also provisorische Radwege, die eigentlich nur aufgrund der Corona-Krise eingerichtet wurden. Ob sie auch nach der Pandemie bleiben, ist noch unklar. Auch ein anderes Ziel wurde weit verfehlt. Vorgenommen hatte sich der Senat nämlich, alle 1120 Kilometer Radwege grün einzufärben. In diesem Jahr wurden 8,4 Kilometer bewältigt. 2018 und 2019 insgesamt nur 21. Die Kosten für den Anstrich belaufen sich auf 2,25 Millionen Euro.

Kohlmeiers Fazit nach knapp vier Jahren fällt sehr dürftig aus: "Im Rahmen der Verkehrswende hat sich aus Sicht der Radfahrer nicht viel verändert." Vor zwei Jahren hätten sich vor allem die Grünen für das Mobilitätsgesetz "abfeiern" lassen, so Kohlmeier. "Dann muss man aber auch Ergebnisse liefern. Weder die Zahlen, auch die der Verkehrstoten, noch die Wahrnehmung sprechen dafür, dass die Verkehrswende überhaupt stattgefunden hat."

"Es geht dramatisch langsam voran"

Doch es hakt auch noch an anderen Stellen. Um herauszufinden, wo die Radwegeinfrastruktur besonders schlecht ist, hatte die rot-rot-grüne Landesregierung im Mobilitätsgesetz ein zentrales Mängelregister festgeschrieben. Online, so die Idee, könnten Radfahrer Schäden und besonders gefährliche Passagen melden. "Möglichst unverzüglich", aber "innerhalb von sechs Monaten" sollten die dann beseitigt werden. So könnte das Radwegenetz an die "Qualitätsstandards des Radverkehrsplans" angepasst werden - zumindest theoretisch. Aber auch fast zweieinhalb Jahre nachdem das Mobilitätsgesetz verabschiedet wurde, gibt es das Mängelregister nach Angaben des Senats nicht.

Auch der angekündigte Radverkehrsplan lässt auf sich warten. Das ist besonders gravierend, denn darin sollten konkrete Ausbauvorgaben, Jahresziele und Schritte zur Verwirklichung festgehalten werden. Aus dieser Planung wäre hervorgegangen, wo und wie Radwege gebaut werden und wie sie aussehen. Daran hätte sich auch messen lassen, ob und wie die Verkehrswende vorankommt. Im Mobilitätsgesetz heißt es dazu, dass der Radverkehrsplan zwei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes vorgelegt wird. Das ist allerdings auch zweieinhalb Jahre nach Inkrafttreten noch nicht geschehen. Der rot-rot-grüne Senat hält sich also nicht an die Regeln, die er selbst aufgestellt hat.

Für "ein ganz zentrales Element" hält auch der Berliner Landesvorstand des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC), Frank Masurat, den Radverkehrsplan. "Aber der wird nicht fertig. Der Senat läuft all seinen Terminen hinterher. Das müsste als Projekt gesteuert werden. Es gibt aber vom Senat kaum Unterstützung und kein Monitoring", kritisiert er bei ntv.de. Auch der ADFC war damals an der Arbeit am Mobilitätsgesetz beteiligt. Masurat lobt das Gesetz: "Es ist inhaltlich super und gibt die richtige Richtung vor." Doch bei der Umsetzung gebe es kaum Fortschritte. Es gehe "dramatisch langsam voran".

Den Flaschenhals, in dem die Umsetzung stecken bleibt, machen viele bei der zuständigen Verkehrssenatorin, Regine Günther von den Grünen, aus. "Eine Steuerung der relevanten Vorhaben findet nicht statt", sagt Masurat über die Arbeit der Politikerin. Die Kritik des SPD-Politikers Kohlmeier ist vernichtend: "Frau Günther ist jetzt seit vier Jahren Verkehrssenatorin und man fragt sich, was die Frau eigentlich macht", sagt er. Hinter vorgehaltener Hand heißt es aus ihrem Umfeld, sie habe ihr Haus "nicht im Griff". Andere verraten: Die Senatorin ist selbst nie mit dem Rad unterwegs, nimmt lieber das Auto. "Wenn die Verkehrswende doch noch stattfinden soll", sagt Kohlmeier, "brauchen wir einen Senator oder eine Senatorin mit Durchsetzungswillen. Jemanden, der auch mal Widerstände aushält und die gesamte Stadt im Blick hat."

"Der Bürgermeister schaut tatenlos zu, wie Menschen getötet werden"
Doch die Liste unverwirklichter Projekte ist noch nicht zu Ende. Auch bei der Planung und Umsetzung der Fahrradschnellwege, die in der Koalitionsvereinbarung angekündigt wurden, hakt es. Mit der Entwicklung ist die landeseigene infraVelo GmbH beauftragt und steckt noch nicht einmal in der Planungsphase. Derzeit lädt die Gesellschaft zu digitalen Veranstaltungen ein, bei denen "erste Erkenntnisse der Machbarkeitsuntersuchungen" vorgestellt werden. Diese Untersuchungen sollten nach eigener Darstellung von infraVelo eigentlich Mitte 2019 abgeschlossen worden sein. Daran, lautete der ursprüngliche Plan, sollten sich das mindestens 30-monatige Planungsverfahren, sowie eine mindestens 18-monatige Bauphase anschließen. All das ist nun kräftig in Verzug. Baubeginn sei "nicht früher als 2022" heißt es inzwischen bei infraVelo.

Wie läuft es in anderen Städten? Dass es grundsätzlich möglich ist, innerhalb weniger Jahre den Radverkehr zu revolutionieren, zeigt etwa das Beispiel Paris. Bürgermeisterin Anne Hidalgo hat während der Pandemie innerhalb einer Woche rund 50 Kilometer Radwege geschaffen. Seit Beginn ihrer Amtszeit 2015 sind in der Stadt fast 400 Kilometer neue Radwege entstanden. In der Pariser Innenstadt stehen knapp 16.000 Leihfahrräder zur Verfügung. In Berlin sind es laut "Tagesspiegel" etwa 2700. Und auch in London wurde in den vergangenen Jahren ein bemerkenswertes Netz aus Radwegen errichtet. Fahrradautobahnen erstrecken sich in der Stadt auf einer Länge von mehr als 100 Kilometern. Die Londoner haben sogar die Wahl und können, wenn sie es etwas ruhiger mögen, auf ein weiteres Netz von "Quietways" zurückgreifen - Strecken auf denen grundsätzlich weniger Verkehr ist.

"Der Unterschied zu einer Stadt wie Paris ist, dass sich dort die Bürgermeisterin darum selbst kümmert. Das war auch in London so - bei aller Ablehnung des ehemaligen Bürgermeisters Boris Johnson", sagt Masurat vom ADFC. "In Berlin schaut der Regierende Bürgermeister tatenlos zu, wie Menschen getötet werden." Es ist ein schwerer Vorwurf. Doch die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. 2018 erreichte die Zahl der Verkehrsunfälle mit Radfahrern einen traurigen Allzeit-Rekord und ging 2019 nur leicht zurück. Im laufenden Jahr sind bereits 13 Radfahrer im Berliner Straßenverkehr getötet worden - mehr als doppelt so viel wie im kompletten Jahr zuvor und deutlich mehr als in den Jahren 2018 und 2017. Auch diese traurigen Zahlen belegen, wie dramatisch die groß angekündigte Verkehrswende in der deutschen Hauptstadt gescheitert ist.

Anmerkung: Selbstverständlich wollten wir auch die Berliner Verkehrssenatorin Regine Günther selbst zu Wort kommen lassen und haben ihr Fragen geschickt. Wir hätten etwa gerne gewusst, warum der Ausbau der Radwege so schleppend läuft, warum immer noch kein Radverkehrsplan vorliegt und was sie zu den Vorwürfen gegen sie sagt. Die Fragen haben wir der Senatorin am Mittwochmittag geschickt mit der Bitte, sie bis Freitagnachmittag zu beantworten. Leider war Frau Günther nicht in der Lage, diese Frist einzuhalten.

Quelle: ntv.de


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