Viel hatte er nicht mehr im Tank. Sogar ein wenig "schummrig" war's ihm während des Interviews geworden. Der Kreislauf. Thomas Müller hatte sich völlig verausgabt. Wie immer. Aber dieses Mal doch noch ein bisschen mehr. Er hatte wieder einmal beweisen wollen, dass er "nicht auf den Altglas-Container gehöre". So hatte er sich also gefühlt, als er keine Rolle mehr spielte, im Herbst 2019. Als er nur noch ein Nothelfer war. Als seine Mannschaft, die stolze des FC Bayern, herabqualifiziert worden war, auf den Fußball-Status: gewöhnlich. Als diese Mannschaft so dermaßen verunsichert war, dass sie sich bei Eintracht Frankfurt brutal demütigen (1:5) ließ. Als ihr Trainer, Niko Kovac, nicht mehr zu halten war. Als Hansi Flick übernahm, der nette Interim. Es war der Tag, der 3. November war's, der in München alles verändert. Radikal, aber erfolgreich. Es war der Tag, an dem die Mannschaft ihre Ketten sprengte.
Die Mannschaft, die so verunsichert war, vor der niemand mehr Angst hatte, sie ist nun neuneinhalb Monate später die stärkste in Europa. Eine perfekt funktionierende Dominanz-Maschine. Unbeeindruckt von allen sportlichen Gegnern. Unbeeindruckt von der Corona-Zwangspause. Unbeeindruckt vom Final-Chaos um mal zu hart und mal zu wenig hart aufgepumpte Bälle. Sie hat die Meisterschaft geholt und den DFB-Pokal. Und sie hat an diesem Sonntagabend in Lissabon auch noch die Champions League gewonnen. "Ich bin stolz auf die Mannschaft", sagte Flick. "Die Entwicklung innerhalb der letzten zehn Monate war sensationell. Wir haben alles optimal genutzt. Dass die Mannschaft noch mal diesen Weg gegangen ist ganz konsequent, das war einfach klasse." Und das auf eine Art, wie sie es lange nicht mehr nötig hatte. Der FC Bayern hat Paris St. Germain dank eines Kopfballtreffers von Kingsley Coman (59.) in einem beeindruckenden Kampf mit 1:0 niedergerungen.
Der Glanz wich oft der Grätsche. Statt feinen Traumpässen gab's harte Tacklings. Nur eines, das brachten sie wieder auf den Platz: ihren besessenen Fokus. Kein Schnickschnack, volle Konzentration. Wenn Fehler passierten, dann wurden sie ausgebügelt. Wenn einer Hilfe brauchte - an diesem Abend war's vor allem der zuletzt überragende Alphonso Davies -, dann war ein anderer zur Stelle. "Wir sind marschiert, waren füreinander da, haben natürlich auch enorme Qualität, ohne das geht es nicht", begeisterte sich der ausgepumpte Müller. "Wir haben den Spirit, die Jungs sind bereit zu leiden. Die Mentalität bei uns ist brutal." Man streite sich gar drum, wer einen Fehler des anderen zuerst wiedergutmachen könne.
Aufregender Tanz um den einen Fehler
In letzter Instanz ist das immer Torwart Manuel Neuer. In der 18. Minute beispielsweise brachte der Kapitän erst noch irgendwie seine linke Hand an einen Schuss von Neymar, um dann schließlich mit der Wucht seines Körpers auch noch den Abpraller zu entschärfen. Und dass er sein Bein in der 70. Minute auch noch phänomenal schnell ausstellte, um den Schuss des starken Marquinhos zu parieren, war schließlich das letzte Kapitel seiner persönlichen Heldengeschichte nach einer turbulenten Saison mit überraschend viel Meinungswut, Vertragsposse und Gesangseklat. "Das war das, was wir uns verdient und was wir uns gewünscht haben. Es war ganz harte Arbeit", teilte er in aller Kürze mit.
Es war vor allem ein psychologischer Kampf, ein Ringen um die Hoheit der eigenen Spielidee. Die Bayern bemühten sich um Pressing, um Kontrolle. Die Pariser um Kontrolle und Konter. Beides gelang irgendwie. Aber jeweils nicht in der beeindruckenden Vehemenz wie zuletzt. So waren die Pariser längst nicht so ängstliche Pressing-Opfer wie Barcelona oder so zu zermürben wie Olympique Lyon. Und die Münchner waren bei der Absicherung ihres extrem hohen Anlaufens deutlich aufmerksamer als noch im Halbfinale. So war's ein sehr aufregender Tanz um den entscheidenden Fehler. Der passierte Thilo Kehrer, dem Nationalspieler, als er sich bei der feinen Hereingabe des überragenden Joshua Kimmich auf Coman ganz knapp verschätzte. Ein kleiner Patzer, mit der fatalsten Wirkung.
Aufgeschlossen zum FC Liverpool
Mit dem sechsten Gewinn des Henkelpotts nach 1974, 1975, 1976, 2001 und 2013 haben die Münchner nun zu Titelverteidiger FC Liverpool aufgeschlossen, häufiger holten die 7,5 Kilogramm schwere Trophäe nur Real Madrid, 13 Mal, und tatsächlich der AC Mailand, 7 Mal. Nun sind sie Helden, so ist das im Fußball. Es gibt die viel Beachteten, wie den starken Neuer, den ausgelaugten Müller, den überragenden Coman und den unermüdlichen Robert Lewandowski (top auch ohne Tor), der nun endlich seinen ersten großen internationalen Titel feiert - und mutmaßlich auch noch Weltfußballer wird, wenn der Titel denn in diesem Jahr überhaupt vergeben wird. Und da sind die weniger Beachteten. Wie der feine Thiago.
Zwar war das Finale wieder nicht das Spiel, das hauptsächlich seine Geschichte erzählt. Aber auch Thiago hat seine Zeit beim Rekordmeister noch prägend gekrönt. Er geht (so deuten alle Zeichen) als Champion. Als einer, der der (Fach)-Welt noch einmal zeigte, warum sie ihn bisweilen zu Unrecht hart beurteilt. Er geht als einer, der das Spiel auf eine herausragende Weise lenkt, der hart grätscht und klar anleitet. Und als einer, der diese unglaubliche Geschichte von Goldhändchen Hansi Flick erzäht.
Niemand in der Startelf der Bayern galt vor dem Finale als so klarer Streichkandidat wie der Spanier. Zu (nach)lässig spielte er gegen Lyon, zu gefährlich galt sein Laissez-faire gegen die Konterwucht der Franzosen. Aber Flick vertraute dem Spielmacher. Und er wurde nicht enttäuscht. Wie auch nicht bei Müller, bei Coman, der zuletzt durch Ivan Perisic ersetzt worden war, bei Boateng, dessen Heldenreise im Endspiel allerdings nach 25 Minuten mit Schmerzen gestoppt wurde, und all den anderen, die Flick zu Helden machte.
Sich selbst freilich auch. In 36 Partien ercoachte er den unfassbaren Punkteschnitt von 2,78. In 36 Partien unter seiner Leitung gab's nur zwei Niederlagen gegen Bayer Leverkusen und Borussia Mönchengladbach - früh nach seiner Amtsübernahme - und später noch ein Remis gegen RB Leipzig. Seit dem 7. Dezember aber ist der FC Bayern ungeschlagen. Und (aller)spätestens seit diesem Abend, dem 23. August, hat sich der Status des Rekordmeisters auch wieder heraufqualifiziert, auf: außergewöhnlich.
Quelle: ntv.de
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