Das alte Japan muss neu denken

  28 Auqust 2020    Gelesen: 594
Das alte Japan muss neu denken

Japans Langzeit-Premier Shinzo Abe tritt zurück. Überalterung, Rezession. Corona: Das Land muss dringend seine großen Probleme anpacken. Hat es auch die richtigen Politiker dafür?

Zum Abschied vollführte Premier Shinzo Abe, 65, noch einmal das patriotische Ritual, das er so liebt. Sekundenlang blickte er starr auf das japanische Sonnenbanner, dann trat er vor den blauen Vorhang im Pressesaal seines Amtssitzes und kündigte seinen Rücktritt an.

Nun ist also wahr geworden, worüber das politische Tokio seit Tagen spekulierte.

Abe begründete den Schritt mit seinem schlechten Gesundheitszustand, mit der chronischen Darmkrankheit, die ihn seit seiner Jugend plagt. Dafür kann er einem persönlich leid tun. Für Japan aber ist Abes Abgang überfällig. Das Land braucht einen Neuanfang: politisch und wirtschaftlich.

Gesucht: Reformfreudiger Außenseiter
Wer der Nachfolger wird und ob er die Chance nutzen kann, muss sich nun zeigen. Die kommenden Tage dürften spannend werden in Tokio. Abe will im Amt bleiben, bis Japans regierende Liberaldemokratische Partei (LDP) den neuen Premier kürt. Wie das geschehen soll, ist noch unklar - ob durch parteiinterne Wahl oder nach Absprache innerhalb der Führungsriege. Sollte der Kandidat intern ausgekungelt werden, haben folgende Abe-Verbündete die größten Chancen:

Finanzminister Taro Aso, 79
Ex-Außenminister Fumio Kishida, 63
Chef-Kabinettssekretär Yoshihide Suga, 71.

Von ihnen ist kaum ein Aufbruch zu erwarten. Sollte der Nachfolger indes durch einen parteiinternen Ideen-Wettbewerb gewählt werden, bekommen auch reformfreudige Außenseiter Chancen, allen voran: Ex-Minister Shigeru Ishiba, 63, und Verteidigungsminister Taro Kono, 57.

Kein japanischer Premier hat Japan so lange regiert wie Abe, am Freitag waren es 2803 Tage. Doch außer der Länge seiner Amtszeit hat er wenig vorzuweisen für die Geschichtsbücher.

Ende 2012 war er angetreten, Japan "wiederherzustellen". Er versprach, aus Japan ein "schönes Land" zu machen. Die Rezepte dafür suchte er häufig in der mythisch verklärten Vergangenheit, als sein eigener Großvater, der Nachkriegspremier Nobusuke Kishi, regierte. Das konnte von Anfang an nicht richtig funktionieren.

Gescheitert in der Wirtschafts-, Außen- und Energiepolitik
Abe selbst gestand heute ein, dass er seine wichtigsten Vorhaben nicht umgesetzt hat. Allen voran erwähnte er die pazifistische Nachkriegsverfassung von 1946, die Japan von den US-Besatzern fast wortwörtlich diktiert worden war. Abe wollte sie durch ein Dokument ersetzen, das auf traditionellen Werten beruht. Sein Ziel war es, Japan moralisch und militärisch aufzurüsten.

Abe wollte an das Wirtschaftswunder der Sechziger- und Siebzigerjahre anknüpfen. Wie es damals schon einmal funktioniert hatte, wollte er das Inselland insbesondere mit den Olympischen Spielen von Tokio 2020 aufmuntern. Doch das Sportevent musste wegen Corona um ein Jahr verschoben werden. Aber auch ohne die Epidemie war diese traditionelle Art der Wachstumspolitik zu kurz gedacht.

Denn das heutige Japan schrumpft, es altert so schnell wie kein anderes führendes Industrieland. Abes Nachfolger stehen vor der schwierigen Aufgabe, eine ganz neue Konjunkturpolitik denken zu müssen. Für ein Land, das kaum noch wächst.

Das wird nicht einfach. Denn Abe hat aus Japan in den fast acht vergangenen Jahren eine Ein-Mann-Veranstaltung gemacht. Neue Ideen wagte in seiner konservativen LDP kaum jemand zu äußern. Die parlamentarische Opposition ist schwach und tief zerstritten.

Die Medien, die ohnehin zur Selbstzensur neigen, wurden gegängelt. Immer wieder geriet Abe durch politische Skandale ins Zwielicht. Seine verbliebene Amtszeit wäre für ihn auch aus diesem Grund ungemütlich geworden.

Umso dringender ist es, dass Japan schnell einen Premier bekommt, der das derzeit drängendste Problem anpackt: Corona. Die Zahl der Infizierten steigt wieder, vor allem in Tokio. Das liegt auch an dem oft chaotischen Krisenmanagement der Abe-Regierung. Lange versuchte Abe, die Krise herunterzuspielen, auch mit Blick auf die Olympischen Spiele, die er erst auf internationalen Druck absagte. Zugesagte Hilfen für notleidende Betriebe und Haushalte wurden oft nur zögerlich oder verspätet ausgezahlt. Dass Japan die Pandemie bisher relativ glimpflich bewältigte, hat vor allem kulturelle Gründe. Das Inselvolk setzt in Krisen auf Zusammenhalt und gegenseitige Rücksicht. Elementare Hygiene-Regeln wie das Tragen von Masken sind in Japan selbstverständlich.

Fukushima ist nicht unter Kontrolle
Doch im Zuge von Corona treten nun all die Alltagsprobleme zutage, die Abe lange mit schönen Worten überspielt hat. Die Wirtschaft, die er mit Hilfe einer ultralockeren Geldpolitik ankurbelte, ist in die Rezession gestützt. Hochgerechnet auf das ganze Jahr brach die nationale Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal um 27,8 Prozent ein. Nun rächt es sich, dass Abe zwar immer neue Slogans verkündete, aber sich scheute, diesen auch echte Reformen folgen zu lassen. Von "Abenomics” - so nannte der Premier seine Politik des Gelddruckens - dürfte höchstens der Name übrig bleiben.

Repräsentativ zeigte sich Abes Versagen bei der Bewältigung des Reaktor-GAU, der im März 2011 große Teile von Nordostjapan radioaktiv verstrahlte. Bereits bei der Bewerbung für die Olympischen Spiele im Herbst 2013 behauptete Abe, die Lage im havarierten Kernkraftwerk Fukushima Daiichi "unter Kontrolle" zu haben. Doch in Wahrheit sammelt sich in der Ruine täglich von Neuem verseuchtes Grundwasser. Das Projekt dürfte noch Generationen beschäftigen. Gleichwohl setzte der Premier unverdrossen weiter auf Kernkraft. Statt alternative Energien zu fördern, ließ seine Regierung veraltete Reaktoren wieder ans Netz gehen - gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung. Gleichzeitig baute Japan so viele Kohlekraftwerke wie lange nicht mehr.

Abe versprach viel, gehalten hat er wenig: So wollte er eine Gesellschaft schaffen, in der "Frauen leuchten". Doch in seinem eigenen Kabinett nahm die Zahl der ohnehin wenigen Ministerinnen im Laufe der Amtszeit noch ab. Zwar strömten unter Abe immer mehr Hausfrauen auf den Arbeitsmarkt - die meisten als Teilzeitkräfte. Doch das hatte wenig mit Gleichberechtigung zu tun. Vielen blieb kaum etwas anderes übrig.

Einst rechnete sich die Mehrheit der Japanerinnen und Japaner zur Mittelschicht. Doch die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Der Börsen-Boom, den Abe mit seiner lockeren Kreditpolitik anfachte, verschärfte den Überlebenskampf, der übrigens auch immer mehr alte Menschen in Japan zum Malochen zwingt. Abes "Job-Wunder" verpufft: Wegen Corona fallen viele der schlecht bezahlten Tätigkeiten weg.

Nationalistisches Gehabe
Abes Nachfolger muss nun auch daran gehen, Japans außenpolitische Isolation zu überwinden. Der nationalistische Premier stieß die Nachbarn China und Südkorea mit seinem patriotischen Gehabe immer wieder vor den Kopf. Im Dezember 2013 pilgerte er zum Yasukuni-Schrein, an dem auch die Hauptkriegsverbrecher verehrt werden. Auf der jüngsten Gedenkfeier für die Opfer des Zweiten Weltkriegs am 15. August in Tokio verlor er kein Wort der Reue. Seine Außenpolitik setzt ganz auf den Schutz durch die USA, die einstige Besatzungsmacht. Wie kaum ein anderer pflegte Abe die Freundschaft zu US-Präsident Donald Trump. Doch an dessen Verlässlichkeit zweifeln mittlerweile viele von Abes Parteifreunden.

Um einen diplomatischen Ausgleich mit China, dem wichtigsten Handelspartner, kommt Japan nicht herum. Mit Russland versuchte Abe vergeblich einen Friedensvertrag auszuhandeln - dabei setzte er auf seine Duzfreundschaft zu Präsident Wladimir Putin. Das war aber offenbar der falsche Ansatz. Auch Japans Verhältnis zu Südkorea ist angespannt.

Der ewige Streit um die Folgen der japanischen Kolonialherrschaft (1910-45) lodert immer wieder auf. Mit patriotischer Rechthaberei versuchte Abe, einen Schlussstrich zu ziehen. Doch die Vergangenheit - sie will einfach nicht vergehen.

Abes Nachfolger ist nicht zu beneiden. Die Japaner können derzeit nur hoffen, dass die LDP die Chance nutzt und einen parteiinternen Wahlkampf abhält - einen Wettbewerb der Ideen.

spiegel


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