ntv: Der Berliner Innensenator Andreas Geisel verwahrt sich gegen den Vorwurf, das Reichstagsgebäude sei bei der Anti-Corona-Demo am Samstag ungeschützt gewesen. "Das war ein Moment von ein, zwei Minuten und das ist auszuwerten", hat er heute früh im RBB gesagt. Stimmen Sie ihm zu?
Rafael Behr: Prinzipiell, ja. Wir haben seit einigen Jahren glücklicherweise kein Bannmeilen-Gesetz mehr, dass es der Bevölkerung verbietet, in die Nähe von Regierungssitzen zu kommen, speziell des deutschen Regierungssitzes. Das ist aufgehoben und sozusagen zum befriedeten Gebiet erklärt worden. Das finde ich gut, der Reichstag ist nicht als Gebäude sondern als Funktion wichtig. Deswegen hat man gesagt: Wenn Parlamentarier da sind, bedarf es eines besonderen Schutzes, ansonsten wird das Haus "normal" geschützt.
Es waren auch Polizeikräfte abgestellt. Auf öffentlich zugänglichen Bildern kann man sehen, dass innerhalb eines kurzen Zeitraumes massiv Unterstützungskräfte an der Treppe angekommen sind. Die können nicht allzu weit weg gewesen sein. Ob das ein oder zwei Minuten waren, weiß ich nicht. Ich habe es als länger empfunden. Klar ist aber, dass aufgeklärt werden muss, warum das Gebäude in dem Moment, wo diese Menschenmenge die Treppe hinaufgestürmt ist, nur von einer ganz geringen Zahl von Polizisten geschützt war.
Der Berliner Innensenator sagt, die Einsatzkräfte hätten aufgrund von Ausschreitungen nahe der russischen Botschaft unweit des Parlaments aushelfen müssen. Erscheint Ihnen das nachvollziehbar?
Selbstverständlich. Man kann das in der Theorie alles schön vorbereiten. Polizeiführer lernen in der Einsatzlehre, Reserven zu bilden. Das ist aber in so einer dynamischen und hektischen Lage oft nicht zu gewährleisten. Und dann schien es tatsächlich so gewesen zu sein, dass man schnell und möglichst mobil Polizeikräfte von A nach B transferiert. Dann entsteht eine Lücke und diese Lücke hat möglicherweise dazu geführt, dass nicht genügend Kräfte vor dem Reichstagsgebäude standen.
Ich habe in diesem "Sturm" aber keine abgestimmte Kommandoaktion gesehen, deren Ziel es war, den Reichstag zu besetzen. Die Leute waren froh, dass sie ihre Bilder auf der Treppe hatten und dass sie zeigen konnten, dass sie da sind. Trotzdem war es eine brenzlige Situation und die Polizei muss sich einiges anhören. Wobei ich nicht die Einsatzkräfte meine, sondern die politischen Entscheider.
Sind Sie insgesamt zufrieden mit dem Einsatz?
Das Bildmaterial ist natürlich nicht schön. Es hat mich auch berührt, dass dieses historische Gebäude plötzlich von diesem abstoßenden Fahnenmeer umgeben war. Wenn ich aber nur auf die Polizei schaue, muss ich sagen: Alle Achtung! Diese drei Beamten wussten bestimmt am Morgen noch nicht, welche Aufgabe auf sie zukommt. Die haben sich das bestimmt anders vorgestellt, und plötzlich stehen sie Hunderten von Leuten gegenüber und müssen dieses Haus verteidigen. Das haben sie höchstwahrscheinlich nicht angeordnet bekommen, sondern sie haben aus der Situation heraus erkannt und in sehr angemessener und anständiger Weise gehandelt. Dafür gebührt ihnen Anerkennung. Ich hätte der Polizeipräsidentin vorgeschlagen, dass sie diese drei einlädt und ihnen sagt, dass sie stolz auf sich sein können. Das macht jetzt der Bundespräsident, das ist auch eine schöne Geste.
Auch das Vorgehen der späteren Einsatzkräfte war relativ besonnen. Die haben diese Menge mit körperlicher Präsenz und Pfefferspray, aber auch sehr ruhig zurückgedrängt. Das hätte auch anders aussehen können. Wir kennen andere Bilder von anderen Polizeieinsätzen.
Hätte die Polizei sich besser vorbereiten müssen? Die Protestbewegung hatte den "Sturm auf Berlin" immerhin vorab im Internet angekündigt.
Die Polizeiführung ist auf solche Fälle ja prinzipiell vorbereitet. Der Staatsschutz beim Landeskriminalamt trägt diese Informationen zusammen und bewertet sie, denn nicht jeder Satz "Sturm auf Berlin" ist gleich wichtig und gleich ernst zu nehmen. Ich gehe davon aus, dass die Informationslage der Polizei relativ nah an der Wirklichkeit war. Man kann aber nicht jedes Hölzchen und Stöckchen gleichermaßen bewachen. Wir haben 2017 beim G20-Gipfel in Hamburg gesehen, dass selbst 24.000 Polizeibeamte nicht in der Lage sind, alles zu beschützen. Insofern muss man auf Lücke setzen und die eingehenden Informationen priorisieren. Dafür braucht man eine Menge Erfahrung, auch von der letzten Großdemonstration in Berlin, und stockt dann die Polizeikräfte bis zu einem gewissen, noch möglichen Maße auf.
Am Samstag standen 3000 Polizeikräfte etwa 38.000 Demonstranten gegenüber. Waren das zu wenige?
Ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, im Nachhinein weiß man immer alles besser. Es erscheint mir ein bisschen heuchlerisch, wenn man sagt: Wären es mehr gewesen, hätte es anders ausgesehen. Masse ist nicht identisch mit Klasse, auch bei mehr Polizei hätten solche Lücken entstehen können. Es kommt hier sehr auf die Bewertung der Polizeiführung hinsichtlich des Publikums an. Die hätte sicherlich bei einem internationalen Rocker-Treffen anders ausgesehen, aber wir haben es hier in erster Linie nicht mit kriminellen Schlägern oder 40.000 Straßenkämpfern zu tun. Die waren möglicherweise auch dabei, aber die große Masse waren aufgeregte Bürger, die ihren Unmut zeigen wollten. Insofern kann ich die Lageeinschätzung der Berliner Polizei gut verstehen.
Sie praktiziert auch schon einige Zeit ein Konzept der ausgestreckten Hand, das auf martialische Bilder wie demonstrativ gezeigte Wasserwerfer und Tausende von Polizisten verzichtet. Irgendwann ist auch der sogenannte Grenznutzen von Polizeikräften erreicht, die Einsatzkräfte müssen bewegt und verschoben werden.
Spielt Geld bei solchen Einsätzen eine Rolle?
Meiner Erfahrung nach nicht. Auch das neue Antidiskriminierungsgesetz in Berlin nicht, über das mehrere Innenminister gesagt haben: Wir überlegen uns, ob wir unsere Polizisten noch dahin schicken. Das sind politische Aufreger. Bei Anlässen dieser Art, immerhin auch von der Welt gesehen, spielt Geld keine Rolle. Zumal sich die Bundesländer nicht für Polizisten und Polizistinnen bezahlen, sondern wechselseitig Kontingente austauschen. Berlin unterstützt die anderen Polizeien auch häufig, und wir haben in den letzten 10 bis 15 Jahren gesehen, dass kein großer Polizeieinsatz mehr von einem Land alleine bewältigt werden kann. Da ist immer die Bundespolizei dabei, da sind immer Polizeikräfte aus dem Umland dabei. So war es dieses Mal auch.
Sie haben den G20-Gipfel in Hamburg angesprochen, die "Occupy Wall Street"-Proteste passen auch dazu: Warum sieht man Wasserwerfer und Schlagstöcke nur bei linken Protesten, nicht aber wenn Reichsbürger und Rechtsextreme auf die Straße gehen?
Zum einen muss man sagen: Die Polizei hat sehr viel mehr Erfahrung im Umgang mit linkem als mit rechtem Protest. Das geht bis in die 60er, 70er Jahre hinein. Zum zweiten weiß man aus Erfahrung, dass sich in linke Protestereignisse sehr schnell extreme Linke wie der Schwarze Block oder die autonome Szene einschleichen. Man weiß, dass die nicht friedlich sind. Es gibt ein langes Vorwissen, das zum Teil aus Vorurteilen besteht, weil man den Linken immer mehr Gewalt unterstellt und attestiert.
Rechte Gewalt auf der Straße gegen die Polizei gibt es erst seit den 2000er Jahren ungefähr. Da haben die rechten Gruppierungen aufgehört, diszipliniert zu marschieren. Es entstanden zum Beispiel die sogenannten "Autonomen Nationalisten". Am Wochenende war das Problem auch, dass sich rechte und rechtsextreme Gruppen unter die Demonstranten gemischt haben, das war keine einheitliche Kohorte. Das ist beim Schwarzen Block anders, deswegen geht die Polizei deutschlandweit gegen solche Gruppen härter und früher vor.
Haben die Bundesländer unterschiedliche Ansätze bei solchen Einsätzen? Sie haben die Politik der ausgestreckten Hand in Berlin genannt.
Bei näherem Hinsehen erkennt man graduelle Unterschiede. Ich komme aus Hamburg, hier sehen wir seit Jahren die "Hamburger Linie", auch beim G20-Gipfel. Das ist keine ausgestreckte Hand, sondern ein konsequentes, frühes Einschreiten. Dazu gehört auch, das Material, die Wasserwerfer zu zeigen. Die kommen in Hamburg schneller zum Einsatz als in Berlin oder in Nordrhein-Westfalen. Das hängt auch von der Politik der jeweiligen Innenminister und Innensenatoren ab.
Unterm Strich bleibt Polizeihandwerk aber immer gleich: Alle haben dieselben Einsatzmittel und dieselben Kompetenzen. Die Polizeiführer lernen zentral an der deutschen Hochschule der Polizei ihr Handwerk. Unterschiede gibt es nur in Nuancen: Wie viel Deeskalation können wir betreiben? Wie viel wollen wir kommunizieren?
Welche Strategie befürworten Sie: Hamburger Linie oder ausgestreckte Hand?
Sagen wir mal so: Die Strategie der ausgestreckten Hand ist immer gefährdet, ausgelacht oder kritisiert zu werden, wenn es nicht klappt, wenn es nicht funktioniert. Das finde ich sehr schade und wünsche den verantwortlichen Polizeiführerinnen und -führern einen geraden Rücken, Geduld und, dass Sie Haltung bewahren. Denn wer alles zeigt, was er hat, repressiv vorgeht und einkesselt - der muss sich nie die Kritik gefallen lassen, er hätte zu wenig getan.
Diejenigen, die deeskalierend und nicht martialisch auftreten, die nicht einschüchtern, keine Polizeifestspiele aus einer Demonstration machen, die riskieren immer, dass sie dafür gescholten werden, wenn etwas passiert. Nun ist etwas passiert: Dieses symbolische Raufgehen der Treppe am Reichstagsgebäude wird international wahrgenommen. Dafür muss man sich rechtfertigen. Ich glaube prinzipiell: Die Strategie der Berliner Polizei war richtig, allerdings kritikanfällig.
Mit Rafael Behr sprach Christian Herrmann
Quelle: ntv.de
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