Ende Juni sah es in Europa so aus, als wäre der Tiefpunkt der Corona-Pandemie vorerst durchschritten. In Ländern wie Spanien, das in Europa mit schwersten vom Virus betroffenen war, sowie in Frankreich und auch in Deutschland sanken die Zahlen der täglichen Neuerkrankungen immer tiefer. Alle drei Länder lagen mit um die acht Neuinfektionen pro eine Million Einwohner im Frühsommer auf ähnlichem Niveau.
Doch spätestens ab Anfang Juli trennten sich die Pfade: Zwar stiegen sowohl in Deutschland, als auch in Spanien und Frankreich die Neuinfektionen. Doch in den beiden südwesteuropäischen Ländern entwickelte sich erneut eine Dynamik, die mit jener hierzulande nicht zu vergleichen ist. Zuletzt waren die Unterschiede eklatant: Während in Deutschland pro Tag Anfang September etwa 15 Menschen von einer Million positiv auf Sars-CoV-2 getestet werden, sind es in Frankreich mehr als dreimal so viele - und in Spanien sogar mehr als zehnmal so viele.
Fast 5000 Neuinfektionen meldete Frankreich zuletzt. Ende vergangener Woche hatte die Gesundheitsbehörde des Landes bereits von einem "exponentiellen Wachstum" gesprochen, die Zahl der Neuinfektionen lag am Freitag sogar bei knapp 7400 innerhalb von 24 Stunden - ähnlich hohe Werte gab es zuletzt Anfang April. Die Regierung hat mittlerweile 21 Départements im Land als Risikogebiete klassifiziert. Diese sogenannten roten Zonen liegen vorwiegend - aber nicht ausschließlich - an der Mittelmeerküste und rund um die Hauptstadt Paris.
In Spanien liegt die Zahl der täglichen Neuinfektionen schon seit Anfang August stets über der Marke von eintausend Fällen. In den vergangenen sieben Tagen waren es im Schnitt sogar mehr als 8000 neue Fälle täglich. Auch dort ist mittlerweile das Frühjahrs-Niveau wieder erreicht. Sorgen bereitete zuletzt mit 20 bis 35 Prozent aller Neuinfektionen vor allem die Entwicklung in Madrid.
Alle "Glutnester" aufgedeckt?
Aber warum werden Spanien und Frankreich erneut von heftigen Infektionswellen getroffen, und Deutschland nicht? In Deutschland versuche man aktuell das Infektionsgeschehen besser zu verstehen, indem man gezielter teste, sagt der Kölner Virologe Rolf Kaiser dem WDR. Und während man hierzulande alle "Glutnester" aufgedeckt habe, sei in Spanien und Frankreich nicht mit der gleichen Intensität getestet worden.
Der Charité-Virologe Christian Drosten hatte im NDR-Podcast ebenfalls die Vermutung geäußert, dass in Frankreich unerfasste Infektionen eine Rolle spielen könnten. Laut Drosten bestehe - auch in Deutschland - die Gefahr, dass Menschen ihre Infektion verstecken und dadurch immer mehr Cluster mit vielen Infizierten entstehen. Dann könne ein Schwelleneffekt mit "schlagartig" vielen Fällen entstehen. "Ich habe das Gefühl, das ist, was wir gerade in Frankreich sehen im Moment."
Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez hat für den Anstieg der Corona-Neuinfektionen zudem das rege Nachtleben in Madrid verantwortlich gemacht. "Die Gründe (für den Anstieg) sind klar. Die Mobilität, das Nachtleben. Die Menschen sind nachlässiger geworden", sagte er in einem Radio-Interview. Spanien sei ein Land, wo sich die Leute sehr viel berühren, erläutert der spanische Forscher Miguel Otero-Iglesias gegenüber dem WDR. "Man küsst sich, man feiert und man spricht auch mit sehr viel Intensität."
Probleme bei Kontaktverfolgung
Zudem kritisieren Experten das in Spanien schlecht ausgebautes System zur Kontrolle der Pandemie: "Viele Regionen haben über Wochen versäumt, das Früherkennungssystem auszubauen und die Koordination zwischen den für die medizinische Grundversorgung zuständigen Gesundheitsämtern und den epidemiologischen Fachdiensten zu verbessern", kritisiert Hernández-Aguado, der einige Regionalregierungen bei der Pandemiebekämpfung berät, laut der "Zeit". Außerdem mangelt es in Spanien massiv an Personal für die Kontaktverfolgung Infizierter und die Überwachung der Quarantäne-Auflagen.
Ministerpräsident Pedro Sánchez stellt in diesem Punkt Verbesserungen in Aussicht: Die Behörden seien dabei, die Nachverfolgung der Infektionsketten in bestimmten Regionen mit Nachholbedarf zu verbessern, sagt er. Der Region Madrid stelle die Zentralregierung derzeit Personal und finanzielle Mittel zur Verfügung.
Einen landesweiten Notstand in Spanien, wie es ihn zwischen März und Juni zur Eindämmung der Pandemie gegeben hatte, zieht Sánchez jedoch nicht in Erwägung. Die derzeitige Lage sei mit derjenigen von März "überhaupt nicht zu vergleichen", sagte er im Radio. Diese Einschätzung wird auch von Experten geteilt, die etwa auf die vielen asymptomatischen Fälle verweisen, die derzeit entdeckt würden. Auf den Balearen sollen sogar 70 bis 90 Prozent der Infizierten keine Symptome zeigen, berichtet das "Mallorca Magazin".
Todesfälle deutlich niedriger
Zudem sinkt das Durchschnittsalter der Infizierten in Spanien wie in anderen Ländern auch. Dies dürfte mit ein Grund sein, warum die Zahl der Todesfälle in Zusammenhang mit Covid-19 mit einigen Dutzend pro Tag zuletzt deutlich unter den Werten von März und April liegen, als über Wochen mehrere hundert Menschen pro Tag starben. Für Frankreich sieht die Entwicklung bei den Todesfällen ähnlich aus. Auch dort betonte Premierminister Jean Castex zuletzt, dass die Lage nicht mit der Situation im Frühjahr vergleichbar sei. Man teste auch viel mehr als damals, sagte er.
So erteilte die französische Regierung in Paris auch radikalen Eingriffen wie erneuten landesweiten Ausgangsbeschränkungen eine Absage. Wichtig sei es, in sogenannten Clustern entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, erklärte Präsident Emmanuel Macron. Er bemühte sich zudem, die Sorge vor erneuten generellen Grenzschließungen zu zerstreuen - eine solche Maßnahme ergäben keinen Sinn, wenn es Gebiete mit aktiver Virus-Zirkulation gebe, die identifiziert seien, sagte er. "Lassen Sie uns in dieser Frage nicht die Fehler vom März wiederholen", warnte Macron.
Dennoch gibt es etwa für Spanien noch lange keine Entwarnung: Denn mittlerweile schlagen die Gesundheitszentren wieder Alarm. Sie stünden angesichts der stark steigenden Corona-Zahlen in manchen Regionen schon wieder vor dem Kollaps. Die Lage sei vor allem in Aragón, Katalonien, im spanischen Baskenland und in der Hauptstadt Madrid "alarmierend", sagte der Präsident der Gesellschaft der Familienärzte, Salvador Tranche, im spanischen Fernsehen.
Auch in Frankreich füllen sich die Krankenhäuser wieder mit Corona-Patienten. Nach Regierungsangaben wurden zuletzt jede Woche rund 800 Patienten mit Symptomen neu in Krankenhäuser eingeliefert, vor sechs Wochen waren es noch 500. Insgesamt sei die Lage aber noch nicht so dramatisch wie im Frühjahr, denn das Virus breitet sich auch in Frankreich derzeit vor allem unter jungen Leuten aus. Rund 80 Prozent der positiv Getesteten haben den Gesundheitsbehörden zufolge keine Symptome.
Quelle: ntv.de, mit dpa/AFP
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