Ferrari präsentiert sich in der Formel-1-Saison 2020 desolat, auf und neben der Strecke produziert der legendäre Rennstall beinahe ausschließlich Negativschlagzeilen. Platz fünf in der Konstrukteurswertung, weit, weit abgeschlagen hinter dem dominanten Konkurrenten Mercedes, ist ein Stich ins Herz der stolzen Ferraristi. Beim Ardennen-Grand-Prix in Spa fuhren die Ferrari-Piloten Sebastian Vettel und Charles Leclerc auf die Plätze 13 und 14. "Langsam, schäbig, unzuverlässig", seien die Ferrari unterwegs, schrieb "La Repubblica" jüngst. Eine Demütigung.
Luca di Montezemolo, legendärer Ex-Boss der Scuderia, der erst mit Niki Lauda und später mit Michael Schumacher im Cockpit die Zeiten der großen Ferrari-Dominanz verantwortete, sagt deutlich: Die "Miseria Rossa" ist hausgemacht. Und nahm ihren Anfang in seinem letzten Jahr als Ferrari-Präsident. Für seine Nachfolger findet er vor dem 999. Formel-1-Rennen für Ferrari in Monza (Sonntag, 15.10 Uhr/RTL sowie im ntv.de-Liveticker) im exklusiven Interview mit RTL/ntv klare Worte.
"2014 haben wir einen sehr hohen Preis gezahlt. Wir haben die Komplexität des neuen Projekts der Power-Unit unterschätzt. Im Vergleich zu Deutschland gab es auch keine Hybrid-Kultur bei uns in Italien. Das war das schlechteste Jahr. Mit dem Teamchef Stefano Domenicali haben wir zwei Weltmeisterschaften im letzten Rennen verloren (2010 und 2012), das heißt, wir waren bis zum Schluss wettbewerbsfähig", erinnert sich Montezemolo. "Die Probleme kamen nach 2014, leider. Die Leute, die Ferrari dann geleitet haben, hatten weder Erfahrung in der Formel 1 noch Kompetenz für die Formel 1. Und sie dachten, man könne einfach so (schnippt mit den Fingern, d. Red.) schnell in der Formel 1 gewinnen."
"Sebastian muss sich zu Hause fühlen"
Ein großer Fehler sei etwa gewesen, James Allison (jetzt Aerodynamik-Chef bei Mercedes, d. Red.) ziehen zu lassen, kritisierte Montezemolo. "Ich nenne ihn, könnte aber auch andere nennen. Und dann hat man den Fehler gemacht, sehr gute Techniker aus der Straßenauto-Produktion in die Formel 1 zu überführen. Da sind völlig unterschiedliche Fähigkeiten gefragt." Montezemolo war 1973 von Enzo Ferrari in den Konzern geholt worden und bekam 1974 die Leitung der Rennsportabteilung übertragen.
Geärgert hat den 73-Jährigen auch der Umgang mit Sebastian Vettel. Im Mai hatten Ferrari und der viermalige Weltmeister das Aus der immer unglücklicher werdenden Ehe zum Saisonende bekannt gegeben. Obwohl es, so Vettel, vonseiten des Rennstalls immer wieder Signale für eine Vertragsverlängerung über 2020 hinaus gegeben habe. Stattdessen wird ab 2021 nun Carlos Sainz für die Italiener fahren. "Das Timing und die Art der Trennung von Seb haben mir überhaupt nicht gefallen", beklagt Montezemolo das Vorgehen seiner Nachfolger.
"Überall im Leben stehen Veränderungen an. Aber es geht um die Art und Weise." Was er nachschiebt, ist kaum chiffrierte Kritik an Teamchef Mattia Binotto: "Vettel ist ein Typ, der die Unterstützung aus seinem Umfeld braucht – genau wie Michael. Er braucht ein Umfeld, das ihn unterstützt, das ihn verteidigt und ihn viel mehr schützt. Das war bei Michael mit Jean Todt der Fall und ich habe das zu meinen Anfangszeiten mit Niki Lauda getan."
Auf Montezemolos Betreiben hin hatte Ferrari 1993 Teamchef Jean Todt verpflichtet, 1996 folgte Michael Schumacher - gemeinsam mit dem etwas später zum Team gestoßenen Ross Brawn gewann man 1999 zum ersten Mal nach 15 Jahren wieder die Konstrukteurs-Weltmeisterschaft, ab 2000 holte Schumacher fünf Fahrer-Titel in Serie. Die ersten für Ferrari seit Jody Scheckters Gesamtsieg 1979. Das Ambiente sei "unwahrscheinlich wichtig, auch die Stabilität bei den Verhandlungspartnern. Domenicali und ich sind gegangen, Mattiaci kam, dann Arrivabene, dann Binotto, und Marchionne ist leider verstorben. Es war nicht einfach!"
Vettel nur ein Missverständnis? - "No!"
War Vettels unglücklich und mit reichlich Frust zu Ende gehendes Ferrari-Engagement also nur ein großes Missverständnis? "No", antwortet Montezemolo absolut resolut: "Nein, absolut nein. Sebastian hat nie für Ärger gesorgt, immer im Team gearbeitet. Er hat Siege geholt, die andere nicht geholt hätten, in einem Auto, das nicht immer konkurrenzfähig war. Schade, dass Sebastian keine WM hier gewonnen hat, schade, dass er nie bis zum letzten Rennen um den Titel kämpfen konnte. Er fuhr in den letzten Jahren keinen Mercedes. Aber die positive Erfahrung überwiegt."
In fünf Jahren holte Vettel 14 Siege für Ferrari. Es scheint ausgeschlossen, dass noch ein weiterer dazu kommt. "Wir haben ein spezielles Aero-Paket, das den SF1000 hoffentlich konkurrenzfähiger machen wird", sagte der 33-Jährige vor dem Rennen auf dem heimischen Hochgeschwindigkeitskurs am Sonntag. Um Siege geht es für die Scuderia längst nicht mehr. "Wir kommen nach Monza und wissen, dass es schwer wird, an der Spitze mitzufahren", sagte Vettel. Das Ziel bleibe es daher, möglichst viele Punkte zu erobern.
Um den in gehörige Schieflage geratenen Motorsportriesen wieder aufzurichten, hat Montezemolo für seine Nachfolger nur einen Rat: "Du musst deine großen Schwächen ausfindig machen und versuchen, diese Schwachpunkte mit den besten Leuten der Welt auszumerzen. Enzo hat mir immer gesagt, wenn es – ich übertreibe jetzt – den besten Piloten in Guatemala gibt, hole den. Das Gleiche gilt auch für die Techniker. Wir müssen die besten Leute verpflichten, um die Performance zu verbessern. Und diese Techniker müssen den jungen Nachwuchskräften unter ihnen helfen, dass sie wachsen können." Dem Team, seinem Team, das nach seiner Familie das Wichtigste in seinem Leben sei, wünscht Montezemolo "trotz der Enttäuschungen zuletzt, alles Gute für die nächste Zeit!"
Quelle: ntv.de
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