"Auf Befehl der Islamisten mussten alle Banken ihre Filialen dort schließen", sagt Ali Ismail Sveheli, Filialleiter der "Commercial National Bank" in Misrata. Seitdem werden die Kunden von Sirte in Misrata mitbedient, ebenso wie die aus Zliten, Al Khums und einigen Orten im Süden Libyens. "Unsere dortigen Filialen müssen wir aus Sicherheitsgründen immer wieder schließen."
Seit dem Sturz von Diktator Muammar al-Gaddafi 2011 hat der nordafrikanische Erdölstaat keine Regierung mehr, die das ganze Staatsgebiet kontrolliert. Eine international anerkannte Regierung ist Toburk im Osten ansässig. Die Hauptstadt Tripolis im Westen ist Sitz der Gegenregierung. Davon profitiert der IS und breitet sich fast ungehindert in Libyen aus. Militärische Operationen des Westens fangen gerade erst an.
Die Hose nur bis zum Knöchel
Aus Angst vor Strafen der Terrormiliz wollen die Wartenden in der Bank zunächst nicht über die Situation in Sirte sprechen. Nach kurzem Zögern ist ein Mann doch bereit, anonym ein paar Worte zu sagen. "Am meisten macht uns unsere Angst vor den Milizionären zu schaffen", sagt der Kunde, der einen langen Bart trägt. "Andererseits funktionieren einige Dinge im Alltag ganz normal, zum Beispiel sind die Schulen noch offen."
Seinen Bart habe er sich nur wachsen lassen, weil die Milizionäre das verlangen, erzählt er. Auch dass seine Hose nur bis zu den Knöcheln reicht, sei ein Zugeständnis an die Kleidervorschrift der Islamisten. Die Bewohner Sirtes würden an mehreren Punkten der Stadt kontrolliert. Nach der Schilderung des Kunden gehen Sittenwächter des IS durch die Straßen und überwachen beispielsweise die Einhaltung des Rauchverbots. "Und wenn ein Ladenbesitzer sein Geschäft nicht während der täglichen Gebetszeiten schließt und zum Beten in die Moschee geht, machen die Islamisten seinen Laden dicht."
Der Mann erzählt weiter, dass Strafen öffentlich vollstreckt würden. Wegen angeblicher Hexerei hätten die Islamisten beispielsweise eine Frau mit Kugeln durchsiebt und ihr dann noch den Kopf mit einer Axt gespalten. Ehe ihm das Gespräch doch zu heikel wird, ergänzt der Kunde noch, dass er für die libysche Küstenwache gearbeitet hat, bis der IS die Stadt Sirte übernahm.
Immerhin hat er mit seiner Frau und seinen Eltern noch genug Geld zum Leben: In der Filiale in Misrata hebt er das Gehalt seines Vaters ab, eines Lehrers. Obwohl es keine Einheitsregierung gibt, bezahlt die Libysche Zentralbank mit Sitz in Tripolis vorerst in beiden Landesteilen auch weiterhin die Löhne und Gehälter von Staatsangestellten.
Der IS als attraktiver Arbeitgeber
Verbarrikadiert hinter hohen Mauern und Stacheldraht, liegt der Sitz des militärischen Geheimdienstes von Misrata. Der Leiter des Dienstes, Ismael al Shukri, schätzt die Stärke der Islamisten auf bis zu 2.000 Kämpfer. Andere halten auch 3.000 IS-Mitglieder in Libyen für möglich, in westlichen Medien ist von bis zu 5.000 Kämpfern die Rede. In den vergangenen Monaten flohen mehrere führende IS-Milizionäre aus Syrien und dem Irak in dieses Land, darunter auch Libyer, die den Krieg nun in die Heimat tragen.
Von verschiedenen libyschen Quellen ist außerdem zu hören, dass der Islamische Staat auch Migranten und Flüchtlinge rekrutiert. Sei es unter Androhung von Gewalt, sei es mit dem Versprechen eines Soldes. Angeblich zahlt der IS monatlich 2000 libysche Dinar, etwa 600 Euro. Damit wäre die Terrormiliz für Flüchtlinge und Migranten in Libyen einer der lukrativsten Arbeitgeber. Ismael al Shukri bestätigt diese Information.
Die Bevölkerung beobachtet das alles mit Sorge. Die meisten Menschen wollen nur noch Frieden, egal unter welcher Regierung. Das gilt erst recht für die Kunden aus Sirte, die in der Bankfiliale in Misrata warten. Ein weiterer Kunde fasst Mut und möchte doch noch etwas sagen: "Ich lebe in ständiger Angst. Um mich und um meine Familie. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass die Islamisten jemanden von uns entführen, um Lösegeld zu erpressen."
Auch dieser Mann trägt eine knöchellange Hose, um möglichst nicht aufzufallen. Er arbeitet beim staatlichen Elektrizitätswerk von Sirte. "Wir liefern immer noch Strom", sagt er nicht ohne Stolz. Womöglich lässt ihn der IS nur deshalb in Ruhe, weil die Terrormiliz die Stromversorgung nicht unterbrechen will. Andererseits ist er vielleicht besonders gefährdet, weil er auf der Gehaltsliste der Regierung steht. Wie viele seiner Landsleute schwankt er ständig zwischen Todesangst und angespannter Ruhe.
QUELLE : WELT.DE
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