Mehr Symbolik ist wahrscheinlich kaum möglich: Die Moskauer Krylatskoje-Halle, Russlands erste Eisschnelllaufhalle, 2004 mit großem Pomp eröffnet und 2005 Schauplatz von Anni Friesingers Triumph bei der Mehrkampf-WM, ist zur Corona-Klinik umfunktioniert worden. Das Eis wurde abgeräumt, jetzt stehen dort 1300 Betten, 100 Ärzte kümmern sich um die Covid-Patienten. So sind 2020 die logischen Prioritäten. Eisschnelllauf gehört nicht dazu.
Während am Wochenende die Skispringer im polnischen Wisla in ihre Saison starten, die Alpinen in Finnland in ihre Weltcups gehen und sich die Bobfahrer in den Eiskanal im lettischen Sigulda stürzen, wissen die Eisschnellläufer derzeit noch nicht, ob sie in diesem Winter überhaupt irgendeinen Wettkampf absolvieren können. Was sonst der Segen war, in der Halle anzutreten und sich von den Unbilden des Winterwetters unabängig zu machen, ist jetzt ein Fluch: Hallensport und Corona – keine gute Kombination.
Auf der Website der Deutschen Verbandes DESG liest sich das unter »Veranstaltungen so«:
20.11.-22.11. Abgesagt: ISU World Cup Speedskating Stavanger (NOR).
28.11.-29.11 Abgesagt: ISU Junior World Cup Speedskating Minsk (BLR).
4.12.-6.12. Abgesagt: ISU World Cup Sppedskating Salt Lake City (USA).
11.2.-13.12. Abgesagt: ISU World Cup Speedskating Calgary (CAN).
Das geht in dieser Tour so weiter.
WM ist abgesagt, Hoffnung ruht auf der EM
Vor ein paar Tagen hat der Weltverband ISU auch die für den Februar vorgesehene Weltmesterschaft in Peking abgeblasen, die vorolympischen Wettbewerbe in China sind ebenfalls schon gestrichen. Betreuer und Athleten hoffen jetzt auf die Europameisterschaft im niederländischen Heerenveen, die für Mitte Januar terminiert ist. Der Plan: Die Athleten werden drei Wochen lang in Heerenveen in eine Sport-Blase eingepackt, in der sie komplett unter sich bleiben. Dann könnte man in dieser Zeit nicht nur die EM, sondern auch noch zwei Weltcups austragen. »Es ist zumindest ein Fixpunkt, auf den wir hinarbeiten können«, sagt die neue Cheftrainerin des deutschen Verbandes, Jenny Wolf.
Angesichts der auch in den Niederlanden bedrohlichen Coronalage steht dieser Plan allerdings auf wackligem Fundament. Wenn das mit Heerenveen nichts wird, könnte tatsächlich die Saison vollständig ausfallen. Und die Eisschnellläufer gingen komplett ohne Wettkampfwinter ins Olympiajahr.
»Das ist eine Katastrophensaison«, schimpft denn auch die im Schimpfen durchaus erprobte Claudia Pechstein. Ohne Wettkämpfe stoße ihre »Eigenmotivation an bisher nicht gekannte Grenzen«, sagt sie der Deutschen Presse-Agentur. Pechstein wird im Februar 49 Jahre alt, eine verlorene Saison trifft sie weit härter als die jüngeren Athleten, die auch mal einen Winter abhaken und auf den nächsten setzen können.
Inzell-Pläne durch Corona durchkreuzt
So wie Patrick Beckert. Er ist mit 30 zwar auch kein Junior mehr, aber nimmt die fehlenden Wettkämpfe derzeit noch gelassen. Er genieße es, »in Erfurt ohne Einschränkungen trainieren zu können«. Das einzige, was ihm zu einer normalen Saison fehle, sagt er der dpa, seien die Reisen zu den Weltcups. Dafür allerdings macht man das alles ja gemeinhin.
Wie heikel es für die Eisschnellläufer in der Corina-Pandemie zugeht, hat der Oktober gezeigt. Der neue DESG-Boss Matthias Große hatte schon vor seiner Wahl zum Präsidenten angekündigt, das bayerische Inzell »zum neuen Hotspot« im deutschen Eisschnelllauf zu machen. Das wurde es im Herbst tatsächlich – aber anders, als Große sich das gedacht hatte. Das Berchtesgadener Land, zu dessen Nachbarschaft auch Inzell gehört, wies bundesweit die höchsten Infektionswerte auf, auch zwei deutsche Athleten, die sich zum Training dort aufhielten, wurden positiv auf das Coronavirus getestet. Es traf auch den niederländischen Weltklasseläufer Kjeld Nuis, der sich mit seinen Teamkollegen in Inzell aufhielt.
Das gesamte deutsche Team musste in Quarantäne, die Max-Aicher-Halle geschlossen werden. Mittlerweile ist sie für Kaderathleten zum Training wieder freigegeben, die Deutsche Meisterschaft, die dort Ende Oktober stattfinden sollte, fiel aber selbstverständlich auch aus.
So liegen auch die hochfliegenden sportlichen Pläne, die Große zu seinem Amtsantritt verkündete, erst einmal auf Eis. Was ihn nicht daran hindert, den Umbau der DESG weiter massiv in seinem Sinne voranzutreiben. Die Geschäftsstelle des Verbandes ist von München nach Berlin verlegt, es gibt einen neuen Bundestrainer für »Wissenschaft, Aus- und Fortbildung«, und die DESG ist jetzt offiziell umbenannt in Deutsche Eisschnelllauf- und Shorttrack-Gemeinschaft. Was noch fehlt: Dass die Eisschnellläufer auch eisschnelllaufen dürfen.
spiegel
Tags: