Boris Nemzows Tochter im Exil : “Ich tue das für meinen Vater“

  11 März 2016    Gelesen: 2068
Boris Nemzows Tochter im Exil : “Ich tue das für meinen Vater“
Nach dem Mord an Boris Nemzow vor einem Jahr ist seine Tochter Schanna nach Deutschland geflohen. Sie will den Kampf des Vaters aus der Ferne fortsetzen - und hat bereits prominente Verbündete für ihr Vorhaben gefunden.
In ihrem Großraumbüro schaut Schanna Nemzowa auf die Nachrichten, die gleichzeitig über den Bildschirm flimmern. CNN, BBC, ein chinesischer und ein russischer Propagandasender sind zu sehen. Ein Jahr ist es her, dass ihr Vater, der Oppositionsführer und ehemalige Vizepremier Boris Nemzow, in Sichtweite des Kreml von vier Kugeln niedergestreckt wurde. Nemzowa will, dass der Mord restlos aufgeklärt, ihr Vater nicht vergessen und "Russland ein freies und wohlhabendes Land" wird.

Deshalb hat die 31-jährige Wirtschaftsjournalistin nach ihrer hastigen Flucht aus Moskau im vergangenen Sommer beim Bonner Auslandssender Deutsche Welle (DW) angeheuert. Deshalb hat sie ihr Mitte Februar erschienenes Buch "Russland wachrütteln" genannt.
Wie eine ständige Mahnung liegt auf einem Schränkchen ein großer Sowjet-Atlas von 1967. Er ist dem "50-jährigen Jubiläum der kommunistischen Oktoberrevolution" gewidmet. In Russland ist das Erbe der Sowjetunion immer noch lebendig, Putin nutzt die Nostalgie zur Festigung seiner Herrschaft. Für die wenigen echten Demokraten im Land wirft das eine Frage auf: Wie kann die östliche Weltmacht nach Jahrhunderten der Diktatur, erst unter den Zaren, dann unter den Kommunisten, zu einer offenen Gesellschaft werden?

Dass zahlreiche junge, aktive Russen, darunter Galionsfiguren der Opposition, nicht nur dem Kreml, sondern dem Land ihren Rücken kehren, ist ein Menetekel für den größten Flächenstaat der Erde (dazu mehr im aktuellen SPIEGEL)

Interviews mit Putin-Gegnern

Nemzowa sitzt an ihrem Computer und bearbeitet gerade ein Gespräch, das sie mit dem ukrainischen Schriftsteller Yury Andruchowytsch für die russischsprachigen DW-Nachrichten geführt hat. Sie fragt ihn nach Putins Annexion der Halbinsel Krim und Moskaus Ukrainepolitik. In den vergangenen Wochen hat sie zahlreiche Putin-Kritiker interviewt: den nach zehn Jahren Lagerhaft in den Westen abgeschobenen Ölmagnaten Michail Chodorkowski, den Sprecher des polnischen Parlamentes und den Premierminister Estlands.

Nach Dienstschluss springt sie zu einem Mann mit elegantem Jackett und rosafarbenem Einstecktuch ins Auto. Julius Freytag von Loringhoven, der Leiter der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung, hat geholfen, Nemzowa nach Deutschland zu bringen, als sie sich in Moskau nicht mehr sicher fühlte.

Im Mai, zwei Monate nach dem Tod ihres Vaters, hielt sie die jährliche "Berliner Rede zur Freiheit" in einem Konzerngebäude zwischen Brandenburger Tor und russischer Botschaft. "Mein Vater ist ein Opfer des Informationskrieges, den der Kreml gegen Oppositionsführer führt", sagte sie da und rief dazu auf, gegen diejenigen ein Einreiseverbot in die EU zu verhängen, die Russlands Propagandamaschine am Laufen halten. Auf ihrem Handy zeigte sie Journalisten Ausschnitte aus dem russischen Staatsfernsehen, das gegen ihren Vater hetzte.

Das Medienecho in Deutschland war gewaltig. "Ich habe mir Vorwürfe gemacht, Schanna womöglich noch weiter in Gefahr zu bringen", erinnert sich Loringhoven. Nemzowa zuckte nur mit den Achseln. "Ich tue das für meinen Vater", sagte sie ihm.

Loringhoven hat für die junge Journalistin den Kontakt zur Deutschen Welle vermittelt, ihrem neuen Arbeitgeber. "Die FDP und Boris Nemzow hatten die gleichen liberalen Werte. Bürgerrechte, Rechtsstaat, politische und wirtschaftliche Freiheit", sagt Loringhoven, "deshalb haben wir Schanna von Anfang an unterstützt und auch ihre Idee, eine Stiftung im Gedenken an ihren Vater zu gründen."

Für Mitte Juni und in Bonn plant Nemzowa die erstmalige Verleihung eines Boris-Nemzow-Preises. Die Startfinanzierung für Preis und Stiftung kommt aus den Einnahmen ihres Buches und Preisgeldern, die sie selbst erhalten hat. Im vergangenen August hatte sie etwa den mit einer Million Euro dotierten Lech-Walesa-Preis in Warschau aus den Händen des polnischen Friedensnobelpreisträgers erhalten.

Zu den Favoriten für den neu ausgelobten Preis zählt der junge Oppositionspolitiker Ilja Jaschin, der nach dem Nemzow-Mord einen von dem Oppositionspolitiker begonnenen Bericht zu Ende recherchierte und veröffentlichte, der die Verwicklung Russlands in den Krieg in der Ostukraine nachwies.

Putin ein "Wiedergänger Hitlers"?

Loringhoven und Nemzowa fahren nach Köln, um Gerhart Baum zu besuchen, den ehemaligen Innenminister der Liberalen. Baum ist 83, aber immer noch gut auf den Beinen und im Kopf flink wie eh und je. Auf dem Tisch stehen Hirschragout und portugiesischer Wein.

Baum erzählt von Hans Dietrich Genscher, dem legendären Außenminister, der bei jedem Treffen für einen engeren Dialog mit Putin plädiere und dem Westen schwere Fehler im Umgang mit Russland vorhalte. Baum aber fürchtet, es in Putin mit einer Art "Wiedergänger Hitlers" zu tun zu haben, einem Mann, der ein geschrumpftes Imperium notfalls mit Waffengewalt und Völkerrechtsbruch wieder erweitern wolle.

Nemzowa schaltet sich ein. Sie spricht schon erstaunlich gut Deutsch. Sie hat nicht nur das Aussehen, sondern auch Fröhlichkeit und Optimismus von ihrem Vater geerbt. Selbst wenn sie eine vernichtende Bilanz der Ära Putin zieht, tut sie dies mit dem gleichen Lächeln, mit dem sie sich über den rheinländischen Karneval wundert oder darüber, dass in Deutschland Männer und Frauen gemeinsam nackt in der Sauna sitzen.
Stolz berichtet sie, dass sie die Stiftung in Bonn registriert hat und "allein ein Bankkonto eröffnet habe". Für das Kuratorium der Stiftung, die Anfang Oktober in Bonn eine große "russisch-europäische" Konferenz mit rund 200 Teilnehmern geplant hat, konnte sie die ehemalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und den in London lebenden Michail Chodorkowski gewinnen.

Gerhart Baum lebt mit seiner Frau Renate in einer große Altbauwohnung. Um Mitternacht führt er Nemzowa auf die grandiose Dachterrasse, von der der Blick auf den Kölner Dom fällt. "Wie bescheiden in Deutschland ein Ex-Minister lebt", wundert sich Nemzowa. "Damit würde sich in Russland kein ehemaliger Minister zufriedengeben. Die bauen sich alle kleine Versailles-Schlösser."

Quelle : spiegel.de

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