Der Harem als vorbildliche Bildungsinstitution – diese Sichtweise teilte man in Europa bisher weniger. Er sei „eine Schule für Mitglieder der osmanischen Dynastie“ gewesen, „und eine Lehreinrichtung, in der Frauen auf das Leben vorbereitet wurden“, sagte die Frau des türkischen Präsidenten jüngst. Seitdem nehmen Spott und Empörung im Internet kein Ende. Und dabei hat Emine Erdoğan nicht einmal die Unwahrheit gesagt. So wenig wie jemand, der sagt, dass Hitler Autobahnen gebaut hat.
Hübsche durften eher lernen
Der Harem des Sultans war tatsächlich eine „Lehreinrichtung“ zur „Vorbereitung für das Leben“ – als Sklavin des Manns. Sie bot einem beträchtlichen Teil der bis zu 1200 darin lebenden Frauen Bildungschancen, von denen die allermeisten Frauen der damaligen Welt nicht zu träumen wagten – Europa eingeschlossen. Lesen und schreiben, Musik und Tanz, Rezitation und Konversation, Kultur und Koran – je hübscher die Frau, desto eher durfte sie sich damit befassen. Der Unterricht im Harem war luxuriös, wie – gemessen an damaligen Verhältnissen – die Aufstiegschancen. In diesem streng reglementierten Reich im Reich übernahmen Frauen wichtige organisatorische Funktionen und konnten als Favoritinnen des Sultans große politische Macht erlangen – am meisten, wenn ihr Sohn der neue Sultan wurde. Die meisten Frauen kamen als Sklavinnen in den Harem, nach mehreren Jahren konnten sie ihre Freiheit erlangen und den Harem verlassen, doch die wenigsten taten das. Das kann man als Beweis für das schöne Leben im Harem sehen – oder für die miese Stellung der Frauen außerhalb.
War es in Europa so viel besser? Wenn Frauenbildung wichtig genommen wurde, im Topkapi-Palast von Istanbul wie in Europa, dann aus drei Gründen: um Frauen zu guten Gläubigen zu machen, zu guten Ehefrauen und Müttern – und zu einer Zierde für den Mann, die Gesellschaft. Noch die Aufklärer fanden die Beschäftigung der Frau mit Philosophie nur insoweit sinnvoll, als sie zur Erfüllung der weiblichen Familienpflichten diente. Der für das 18. Jahrhundert fortschrittliche Pädagoge Johann Bernhard Basedow forderte, dass Mädchen Deutsch und Französisch sprechen, zeichnen und musizieren können sollten. Geschichte, Geografie oder Biologie fand er unnötig: Bildung (eine ganz gewisse, eng begrenzte) sollte Frauen für den Mann reizvoller und nützlicher machen, wie im Harem für den Sultan.
Freigelassene Haremsfrauen in Wien
Erst am Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Recht auf Bildung und (sexuelle) Selbstbestimmung zur Forderung im Kampf um Frauenemanzipation; der Harem des Sultans hielt sich nicht viel länger. 1909 stürmten Jungtürken den Palast und ließen die Sklavinnen frei; die Glücklicheren konnten zu ihrer Familie zurückkehren, andere mussten sich als Kuriosität in Europa bestaunen lassen – etwa bei einer Völkerschau in Wien.
Rühmlich ist auch die Geschichte der Frau in Europa nicht, allerdings: Kein ernst zu nehmender europäischer Politiker – schon gar keine Politikergattin – würde wohlwollend auf das Leben bürgerlicher Frauen im 18. Jahrhundert hinweisen, um sein/ihr Eintreten für Gleichberechtigung zu unterstreichen. Emine Erdoğan sagte auf besagter Veranstaltung über „osmanische Spuren in den Provinzen“ ja nicht nur, man solle sich an die Lebenswelten des osmanischen Reichs erinnern; sondern auch: „Wir müssen eine gleichberechtigte Gesellschaft schaffen. Wir müssen den Frauen einen ungehinderten Zugang zur Wissenschaft, zur Arbeitswelt bis hin zur Kunst bieten.“
Gleichberechtigung bedeutet für viele Konservative, egal, ob Muslime, Christen oder Atheisten: Jedes Geschlecht hat gleiches Recht auf das ihm Gemäße. So konnte der türkische Präsident kürzlich auch am Weltfrauentag ungeniert erklären: „Für mich ist eine Frau vor allem eine Mutter.“ Und so kann man auch die Frauenbildung im Harem als Wegweiser der Gleichberechtigung sehen.
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