Wie einst die Bobfahrer aus Jamaika

  20 Januar 2021    Gelesen: 360
  Wie einst die Bobfahrer aus Jamaika

Handball spielt in der Schweiz keine große Rolle - bis zu dieser Weltmeisterschaft. Denn das Nachrücker-Team schafft gegen den Rekord-Weltmeister fast eine Sensation. Plötzlich sitzt das ganze Land vor dem TV und der Kapitän wähnt sich auf den Spuren von Cool Runnings.

Dieser Moment war furchtbar schwer zu ertragen, weil der Körper von unterschiedlichsten Emotionen gleichzeitig durchströmt wurde. Andy Schmid sank zunächst auf die Knie, die Beine trugen ihn für einen kurzen Moment nicht mehr. Er rappelte sich auf, ging zu einem der beiden Tore auf dem Spielfeld und hielt sich am Netz fest. Erschöpfung, Wut, Trauer und Stolz vermengten sich im Körper des 37-Jährigen. "Das war eine historische Chance", sagte der Schweizer Spielmacher am Dienstag, nur einen halben Tag nach dem Handball-Drama gegen Frankreich, als er die verschiedenen Gefühle immer noch in sich trug, der Kopf sie aber verarbeitet hat.

Die Handballer aus der Schweiz sind bislang die positive Überraschung bei der Handball-Weltmeisterschaft in Ägypten und schrammten Montagabend nur knapp an einer Sensation vorbei. 60 Minuten lang waren die Eidgenossen Rekord-Weltmeister Frankreich ein ebenbürtiger Gegner, verloren nur hauchzart 24:25. Die Qualifikation für die Hauptrunde haben die Schweizer bei der ersten WM-Teilnahme seit 26 Jahren trotzdem geschafft und wollen dort weiter für eine Fortsetzung der Handball-Euphorie sorgen, die gerade als Welle über den Alpen-Staat schwappt.

"Ein kleines Erdbeben"

"Es ist wie ein kleines Erdbeben", erzählt Schmid von Eruptionen, die die Leistungen des Spielmachers und seiner Teamkollegen in der Heimat ausgelöst haben. Das Fernsehen überträgt alle WM-Partien live, die sozialen Netzwerke quellen über mit dem Thema Handball und die Journalisten versuchen, aus der Ferne Neuigkeiten zu erhaschen. Vor Ort ist in Kairo kein Medienvertreter aus der Schweiz, denn bis 44 Stunden vor dem ersten Auftritt in Ägypten gehörte die eigene Mannschaft nicht zu den 32 WM-Teilnehmern. Erst durch den corona-bedingten Ausschluss der USA rückte die Schweiz nach. Die Mannschaft organisierte die Reise nach Afrika innerhalb weniger Stunden, fuhr vom Rollfeld des Flughafens in Kairo direkt in die Halle und schlug dort Nachbar Österreich - ohne die Chance auf eine sonst übliche Vorbereitung gehabt zu haben.

Das scheint das Team zusammengeschweißt zu haben, nicht erst bei der Beinahe-Sensation gegen Frankreich beeindruckten die Eidgenossen mit großem Zusammenhalt. In der fast menschenleeren Arena sorgten die Akteure auf der Bank für Unterstützung, sie klatschten rhythmisch, es gab Anfeuerungsrufe, die sonst von den Tribünen kommen. Die Schweizer haben eine Mischung zwischen Hingabe, Aufopferung und kindlicher Freude für dieses Turnier gefunden.

"Mir kommt das ein bisschen wie im Film Cool Runnings vor", erzählt Schmid: "Nur, dass wir Schweizer besser Handball spielen können als die Jamaikaner Bob fahren." In dem Kultfilm aus den 1990er-Jahren erfüllen sich ein paar Sportler aus Jamaika ihren Traum von der Teilnahme an den Olympischen Spiele, in dem sie ein Bob-Team gründen. Für Kapitän Schmid und seine Mitspieler fühlt es sich in Kairo gerade auch wie in einem wunderbaren Traum an, trotz der schmerzlichen Niederlage gegen die Franzosen.

Schweizer waren lange richtig schlecht

Fast zwei Jahrzehnte lang waren die Schweizer im Handball nicht mal mittelmäßig, sondern im europäischen Vergleich richtig schlecht. Es gab immer wieder einzelne Spieler, die den Sprung in die deutsche Bundesliga schafften, die Nationalmannschaft blieb aber nur ein Sparringspartner in Qualifikationsrunden für die großen Turniere. Die Eidgenossen kämpften gegen Belgien, Estland oder Finnland um Siege - nicht immer gelang es.

Am Montag hieß der Gegner Frankreich und es fehlte nur ein bisschen Fortune, um einem der großen Favoriten auf den WM-Titel einen Zähler abzuknöpfen. "Wir waren 60 Minuten lang auf Augenhöhe", sagt Schmid, der mit zehn Treffern aus einer kampfstarken und mutigen Mannschaft herausragte. Der Spielmacher ist seit vielen Jahren der Anführer der Schweizer, er gehört in der deutschen Liga zu den Topstars, führte die Rhein-Neckar Löwen zwei Mal zur Meisterschaft. Im Trikot der Eidgenossen musste er jedoch bis kurz vor dem Ruhestand warten, ehe er bei einer Weltmeisterschaft mitwirken kann. Jetzt, mit 37 Jahren, spürt er Dankbarkeit, "endlich auf dieser Bühne spielen zu dürfen". Ab diesem Mittwoch treffen Schmid und die Schweizer in der WM-Hauptrunde auf Island, Portugal und Algerien.

"Gegen diese Mannschaften haben wir eine Chance auf Punkte, wenn es gut läuft", sagt Schmid. Er möchte der Handball-Welt weiterhin zeigen, "dass wir berechtigt sind, hier dabei zu sein." Nach der Teilnahme an der EM-Endrunde vor einem Jahr sind die Schweizer zum zweiten Mal hintereinander bei einem Großereignis dabei, ein positiver Trend ist unverkennbar. Schmid sieht die Entwicklung, möchte daraus aber noch keine Einkehr der Schweiz in den europäischen Handball-Adel ableiten. "Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer", erzählt er: "Wir haben jetzt zwei Schwalben gesehen, aber das ist noch kein Schwarm."

Quelle: ntv.de


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