Nicht alles anders, aber klüger und effizienter

  29 Januar 2021    Gelesen: 448
Nicht alles anders, aber klüger und effizienter

Ein europaweiter Aktionsplan gegen Corona soll her, fordern Wissenschaftler um Viola Priesemann, Melanie Brinkmann und Clemens Fuest. Sie wollen mit klaren Zielen die Motivation der Menschen wecken.

Mehrere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Fachrichtungen haben einen Aktionsplan für eine Eindämmung der Corona-Pandemie gefordert. Nötig sei "ein klarer Plan für ein sofortiges europaweit koordiniertes Vorgehen", heißt es in dem Papier, dass die Virologin Melanie Brinkmann, die Physikerin Viola Priesemann und der Ökonom Clemens Fuest vorstellten.

Die Forderungen nach einer "klaren Präventionsstrategie" kann man als Kritik an der bisherigen Corona-Politik in Deutschland verstehen. Bislang hangeln sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten von einer Konferenz zur nächsten. Das liegt einerseits daran, dass die Corona-Verordnungen der Länder nicht länger gelten dürfen als vier Wochen. Es liegt aber auch daran, dass sich die Beteiligten nicht langfristig festlegen wollen.

Die Ministerpräsidenten und Merkel fahren lieber auf Sicht. "Die einzige Langzeitstrategie ist das Impfen", sagte etwa der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Markus Söder nach der jüngsten Konferenz am 19. Januar. Sein Kollege aus Nordrhein-Westfalen, der frisch gebackene CDU-Chef Armin Laschet, sieht das ganz genauso. "Keiner kann heute sagen, was im Mai und im Juni und im Juli geöffnet oder geschlossen wird", begründete er am Mittwoch im Düsseldorfer Landtag seine Ablehnung eines Langzeitplans.

"Wir müssen einen Plan haben"

Es werde noch das ganze Jahr dauern, bis durch die Impfung ausreichend Menschen geschützt seien, sagte dagegen Melanie Brinkmann vom Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung bei einer Online-Pressekonferenz. "Bis dahin müssen wir einen Plan haben, wie wir dahin kommen." Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen wies die Vorstellung zurück, man könne sich höhere Fallzahlen erlauben, um mehr Freiheiten zu haben. Das Gegenteil sei der Fall: "Je niedriger die Fallzahlen, desto einfacher ist die Kontrolle, desto mehr Freiheit und mehr Kontakte kann jeder einzelne haben." Die Alternative sei, dass die Gesellschaft sich weiter "am Limit der Krankenhauskapazität" bewege.

Clemens Fuest, Präsident des Münchner Ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, ergänzte, auch aus wirtschaftlicher Sicht sei es "extrem wichtig, dass wir in Europa die Pandemiepolitik, den Gesundheitsschutz, aber auch das Ermöglichen von Austausch besser koordinieren". Das derzeitige unkoordinierte Vorgehen erschwere die Planbarkeit für Unternehmen.

Fuest nannte die Vorstellung, man könne die Wirtschaft öffnen und den Schutz vor Corona auf Altenheime und Krankenhäuser beschränken, "eine Illusion". Studien würden zeigen, dass 80 Prozent des Einbruchs beim Konsum nicht durch Corona-Maßnahmen entstünden, sondern "durch das Virus selbst". Basis dieser Studien seien Beobachtungen in den USA, wo es zwischen den Bundesstaaten sehr unterschiedliche Öffnungsstrategien gegeben habe. Dort habe sich gezeigt, dass eine Öffnung bei andauernd hohen Infektionszahlen wirtschaftlich nichts bringe.

Die Virologin Brinkmann sagte, der Schutz vulnerabler Gruppen sei "sehr schwierig, wenn das Infektionsgeschehen insgesamt sehr hoch ist". Schon allein das Personal in Pflegeheimen habe auch Familien und Kinder, die zur Schule gehen, wodurch Infektionen eingeschleppt würden. Bislang sei es nicht gut gelungen, die vulnerablen Gruppen zu schützen.

"Das A und O ist die Motivation"

Den Unterzeichnern des Papiers, das auch in der Fachzeitschrift "Lancet" veröffentlicht wurde, geht es erkennbar darum, dass überhaupt eine Strategie entwickelt wird. Priesemann verwies auf erfolgreiche Vorbilder von koordinierten Anti-Corona-Maßnahmen in Ländern wie Neuseeland, Australien, Finnland und Uruguay. Vor allem in Europa sei ein länderübergreifendes Vorgehen wichtig, denn "die Viren machen nicht an der Grenze halt".

Priesemann sagte, wenn "an allen Stellschrauben ein Stückchen" gedreht werde, seien nicht härtere Maßnahmen nötig. Sinnvoller sei ein "klügerer und effizienterer Lockdown" mit einer Mischung aus Tests, Kontaktnachverfolgung und Isolierung. Dabei müsse beispielsweise die Kontaktnachverfolgung nicht perfekt sein, wenn es genug Tests gebe. Von zentraler Bedeutung sei, "dass die Menschen verstehen, worum es geht, was das Ziel ist". Die Motivation sei "das A und O", um auch bei sinkenden Fallzahlen nicht in eine Stimmung zu geraten, in der auf breiter Front Öffnungen gefordert werden. "Wir sehen in den Modellen klar, dass die niedrigen Fallzahlen einfacher zu kontrollieren sind, aber das ist schwer zu kommunizieren."

Ein rasches Vorgehen fordern die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch mit Blick auf Virus-Mutanten wie der aus Großbritannien. "Sobald sich eine ansteckendere Variante etabliert hat, wird es um einiges schwieriger, die Zahl der Neuinfektionen zu stabilisieren", heißt es in ihrem Papier.

"Es ist machbar"

Auf die Frage, ob es realistisch sei, dass sich Europa auf eine gemeinsame Strategie einige, sagte Fuest, es sei in dem Sinne realistisch, dass die vorgeschlagene Strategie machbar sei. Ein komplett einheitliches Vorgehen sei nicht nötig, betonte Priesemann. Jede Region, jedes Bundesland, und jedes europäische Land wisse am besten, mit welchen Maßnahmen es die Inzidenzen drücken könne.

Konkret fordern die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihrem Papier unter anderem eine möglichst breite Umsetzung von Homeoffice und Online-Unterricht. Dabei sollte die Unterstützung für Eltern, die zu Hause unterrichten, ausgeweitet werden. "Gruppengrößen sollten reduziert werden, und Gruppenmitglieder sollten gleich bleiben." Daneben sind in dem Papier die bekannten Präventionsmaßnahmen aufgeführt: "physical distancing, Hygienemaßnahmen, das Tragen von Gesichtsmasken, Lüften und die Verwendung von Filtern, das Vermeiden geschlossener und überfüllter Räume und das zu Hause Bleiben, wenn Symptome auftreten".

Ohne die bestehende Corona-App zu kritisieren, fordern die Wissenschaftlerinnen eine echte Tracing-App, die eine schnelle Identifizierung und Quarantäne von potenziell Kranken ermöglicht. "Die notwendige Isolierung und präventive Quarantäne sollte deutlich gefördert und durchgesetzt werden, und die Betroffenen sollten unterstützt werden." Das Papier plädiert nicht für Reiseverbote, sondern für Tests und Quarantäne für grenzüberschreitende Reisende. In der Praxis findet das in Deutschland bislang kaum statt.

Quelle: ntv.de


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