So gefährlich ist Impfstoff-Nationalismus

  30 Januar 2021    Gelesen: 836
So gefährlich ist Impfstoff-Nationalismus

Die EU sieht sich als Opfer von Impfstoff-Nationalismus. Ein Blick nach Südafrika hilft, um zu verstehen, was das wirklich ist. Dort lässt sich auch beobachten, wie unklug es ist, dem Virus in ärmeren Ländern freie Bahn zu lassen.

Viel ist in den vergangenen Corona-Monaten über Impfstoff-Nationalismus diskutiert worden, vor allem darüber, wie man ihn vermeidet. Doch spätestens seit der Impfstoff-Hersteller Astrazenca seinen Lieferplan für die EU reduziert hat, verbreitet sich der böse Geist ganz ungeniert: Warum bekommen die Briten ihren Impfstoff und nicht die EU?, fragt man in Europa. Aber niemand dort fragt: Warum bekommt Afrika so gut wie gar keinen Impfstoff? "Wenn wir über Impfstoff-Verteilung reden, muss man sich nur anschauen, wie die Welt grundsätzlich funktioniert", sagt Mncebisi Mbatha.

Der 49-Jährige ist Büroleiter der deutsch-südafrikanischen Hilfsorganisation VPUU in dem Armenviertel Khayelitsha am Rand von Kapstadt. "Die Ärmsten werden ärmer und sie infizieren sich mehr. Wer bekommt am wenigsten Impfstoff? Die Ärmsten der Armen!" Aber zunächst will Mncebisi Mbatha, den hier alle nur "Mr. Big" nennen, seinen "Kiez" zeigen. Es ist viel los auf den Straßen.

Kinder spielen. Frauen hängen Wäsche auf, Männer sitzen vor den Häusern und reden. Reges Treiben, zum größten Teil ohne Maske und beängstigend sorglos. Denn hier in Khayetisha wie im Rest Südafrikas grassiert die wesentlich ansteckendere Mutation des Coronavirus namens 501.V2, auch bekannt als B.1.351. In Deutschland ist sie noch ein Schreckgespenst, hier gehört 501.V2 zum Alltag.

Die Mutante hat das ursprüngliche Virus fast komplett verdrängt. Offiziell meldet Südafrika 42.000 Corona-Tote. Addiert man die außergewöhnlich hohe Übersterblichkeit, sind am Kap über 100.000 Menschen mit oder an Covid-19 gestorben. Mr. Big und seine Frau waren auch infiziert.

In Südafrika ist noch niemand geimpft

"Es war heftig", sagt der Vater von zwei Kindern. "Zwölf Tage lang war ich sterbenskrank und danach konnte ich lange Zeit nicht mehr laufen. Meine Beine waren taub." Das war im Juni - in der ersten Infektions-Welle. Vor der Mutation und bevor es einen Impfstoff gab. Allerdings hat sich in diesem Punkt hier wenig verändert. In Südafrika wurde bis heute nicht ein einziger Mensch geimpft. Auf dem gesamten afrikanischen Kontinent mit seinen 1,35 Milliarden Bewohnern - knapp 17 Prozent der Weltbevölkerung - haben bisher weniger als 25.500 Menschen den lebensrettenden Pieks bekommen. 25 in Guinea, 450 auf Mauritius und 250.000 auf den Seychellen. Das war's. Das ist Impfstoff-Nationalismus.

"Wir sind sehr besorgt über den Impfstoff-Nationalismus, der - wenn er so fortgeführt wird - die Genesung aller Nationen verhindert", sagte Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa diese Woche beim virtuellen Weltwirtschaftsforum von Davos. "Wollen wir die Pandemie weltweit besiegen, müssen wir zusammenarbeiten." Mr. Big klingt entspannter. Warten gehört zum afrikanischen Alltag. "Ein Impfstoff würde uns wirklich helfen", sagt er. "Aber wir müssen eben warten und in der Zwischenzeit die Menschen immer wieder an die Gefährlichkeit des Virus erinnern."

Wie in Europa, so gibt es auch in vielen afrikanischen Ländern eine gewisse Corona-Müdigkeit. Kontaktbeschränkungen werden weniger eingehalten, Masken hängen vorwiegend auf Kinnhöhe. 22 afrikanische Länder erleben derzeit drastisch ansteigende Infektionszahlen. Todesfälle haben sich in den vergangenen vier Wochen verdoppelt. Das wahre Ausmaß der Pandemie auf dem Kontinent ist jedoch wegen limitierter Testkapazitäten unbekannt.

Warten ist für Südafrika nicht wirklich eine gute Option. Mittlerweile wurde die südafrikanische Mutation in Botsuana, Ghana, Kenia und Zambia und in 24 nicht-afrikanischen Nationen nachgewiesen. Und ja, die britische Mutation hat nun auch ihren Weg in den Süden angetreten. Gambia und Nigeria melden erste Fälle. "Jetzt ist nicht die Zeit, einen Kontinent allein zu lassen", sagt Professor Tulio de Oliveira, Direktor des KwaZulu-Natal Forschungs- und Gensequenzierungsinstituts KRISP in Südafrika. Der Bioinformatiker aus Brasilien hat quasi die südafrikanische Virus-Mutation "entdeckt". Er sammelt und interpretiert die Daten des extrem professionellen Gensequenzierungs-Netzwerks in Südafrika. In puncto Impfstoff-Nationalismus argumentiert de Oliveira auch mit Zahlen. "Afrika hat gute, aber wenige medizinische Pflegekräfte und Ärzte", sagt er. Sie, wie auch die Älteren in der Bevölkerung, seien extrem schutzbedürftig. "Bevor andere reiche Nationen damit beginnen, ihre jungen Bürger zu impfen, sollten sie Afrika erlauben, ihre besonders Schutzbedürftigen zu immunisieren." Das Wort "erlauben" ist bewusst gewählt.

Impfdosen sind für Südafrika teurer als für die EU

Überdimensionierte Impfstoff-Bestellungen und -Reservierungen Europas und der USA haben den Markt leergefegt. Südafrika hat bei der Impfstoff-Beschaffung schlecht geplant, sich auf Ankauf durch die Afrikanische Union und das WHO Covax System verlassen. Die dafür nur schleppend bereitgestellten Impfdosen würden für weniger als 40 Prozent der Bevölkerung ausreichen. Die Empörung und der Druck der südafrikanischen Bevölkerung und Wissenschaftler ist groß. Das Gesundheitsministerium wandte sich in den vergangenen zwei Wochen endlich direkt an Hersteller wie Astrazenca oder Biontech/Pfizer. Letztere boten 40 Millionen Impfdosen an. Astrazeneca ließ verlauten, es gäbe grundsätzlich keine Pläne, Afrika zu beliefern.

Den Südafrikanern wurde geraten, sich an das Serum Institute in Indien zu wenden. Der weltweit größte Impfstoff-Hersteller hat eine Lizenz, das Astrazenca-Präparats zu produzieren. Südafrikas Regierung konnte sich in Indien 1,5 Millionen Dosen sichern. Sie sollen am kommenden Wochenende ankommen. Um Gratis-Impfstoff von der WHO zu beziehen, ist Südafrika nicht arm genug. Also zahlt das Land - und zwar doppelt so viel wie die EU, nämlich 5,25 US-Dollar pro Astrazeneca-Dosis. Die EU bekommt Rabatt im Ausgleich für saftige Finanzspritzen für die Impfstoff-Entwicklung. Für wirtschaftlich angeschlagene Länder wie Südafrika wären derartige Investitionen undenkbar.

Der hohe Einkaufspreis ist nun eine bedeutende finanzielle Belastung. Wie im Rest der Welt wird das Virus ohne flächendeckende Impfungen nicht unter Kontrolle zu bekommen sein. Die Mutation ist ein zusätzliches Problem. Eine Studie des US-Konzerns Novavax bescheinigt dem Impfstoff-Kandidaten des Konzerns eine hohe Wirksamkeit gegen die britische Mutante (85,6 Prozent). Doch im Kampf gegen die südafrikanische Virus-Variante ist der Novovax-Impfstoff wesentlich schwächer - 49,9 Prozent. Nur die Hälfte der Geimpften wäre geschützt. Fünfzig Prozent Wirksamkeit ist der von der WHO verlangte Mindestwert. Bislang ist der Novovax-Impfstoff weder in der EU noch in Südafrika zugelassen.

Und dann gibt es für Südafrika noch ein ganz anderes Problem: Reinfektionen. Zwar waren 40 Prozent der Menschen in Khayelitsha wie Mr. Big in der ersten Welle mit dem Originalvirus infiziert. Aber: "Ich glaube nicht, dass ich gegen die Mutation immun bin", sagt Mr. Big. Konsequent trägt er seine Maske, geht davon aus, sich jederzeit wieder anstecken zu können. "Sagen wir's so: Vorsicht ist besser als Nachsicht." Seine Augen lassen ein breites Lächeln hinter der Maske vermuten. Die Vorsicht ist gerechtfertigt. Eine neue südafrikanische Studie an 44 Patienten, die wie Mr. Big mit dem Orginal-Virus infiziert waren, zeigt: Fast die Hälfte erkrankte erneut - am mutierten Virus.

"Ich gehe davon aus, dass Südafrika noch reichlich Nährboden für eine dritte und vierte Welle bietet", prognostiziert Professor Wolfgang Preiser von der medizinischen Fakultät der Universität Stellenbosch. "Unser Winter kommt ja erst noch. Wir sind jetzt im Hochsommer. So viel zum Thema Hitze und Sommer verhindern die Virus-Verbreitung." Die hiesige Mutation zeige, wie aktiv sich das Virus an eine Bevölkerung anpasse, von der immerhin schon ein gewisser Teil Infektionen durchgemacht und Antikörper entwickelt habe. Zeit ohne Impfung ist Zeit für das Virus, sich anzupassen. "So etwas ist gefährlich", sagt Preiser. "Das sind dann praktisch Natur-Experimente, bei denen man versucht, das Virus gefährlicher zu machen."

Quelle: ntv.de


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