Eines der größten Pandemie-Sorgenkinder in Europa quält sich weiter durch die Krise: In Tschechien hat die Gesamtzahl der nachgewiesenen Infektionen mit dem Coronavirus zur Wochenmitte die Millionenmarke überschritten, die Lage in den Kliniken spitzt sich zu. Die jüngsten Daten aus dem Gesundheitsministerium verheißen keine Entspannung.
Am Donnerstag wurden den Behörden 9567 neu erkannte Ansteckungen mit dem Erreger Sars-CoV-2 gemeldet. Die Zahl der laborbestätigten Fälle stieg damit auf insgesamt 1.013.352. Das Nachbarland im Osten zählt insgesamt nur rund 10,7 Millionen Einwohner.
Unter der Annahme, dass in diese Summe - wenn überhaupt - nur eine geringe Zahl an Doppel-Infektionen einfließt, hat sich in Tschechien somit bereits fast jede zehnte Person mit dem Coronavirus infiziert. Als genesen gelten Behördenschätzungen zufolge derzeit etwa 902.000 Personen.
Überstanden hat Tschechien die Corona-Krise noch lange nicht. Die Viruslage ist weiterhin dramatisch. Nachdem sich das EU-Mitglied seit Jahresbeginn dem Ende einer zweiten Infektionswelle entgegenzubewegen schien, begann die Zahl der täglich gemeldeten Ansteckungen auf einem hohen Mittelwert von etwas weniger als 7000 neuen Fällen zu stagnieren. Nach Berechnungen von ntv.de auf Basis der täglich neu registrierten Infektionen weist das Land aktuell eine Sieben-Tage-Inzidenz von 446,0 neuen Fälle je 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen auf. Übertroffen wird dieser Wert in Europa derzeit nur in Portugal (700,6), Montenegro (529,3) und Spanien (454,6). Zum Vergleich: In Deutschland liegt dieser Wert - Stand 4. Februar - bei 80,7.
Doch damit nicht genug: Laut offiziellen Angaben befinden sich in Tschechien 5811 Personen aufgrund einer Covid-19-Erkrankung im Krankenhaus, 985 davon werden beatmet. In Deutschland sind es dem Divi-Register zufolge insgesamt 4178 Covid-Intensivpatienten, wovon 2300 invasiv beatmet werden. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl kommen die tschechischen Nachbarn damit auf 54 Covid-Patienten je 100.000 Einwohnern, wovon neun ohne invasive Beatmung nicht überleben könnten. Die deutschen Vergleichszahlen liegen hier aktuell bei 5,0 Corona-Intensivfällen und 2,7 Covid-Patienten an den Beatmungsgeräten.
Für das tschechische Gesundheitssystem hat das Infektionsgeschehen zur Folge, dass aktuell 82 Prozent der Intensivbetten belegt sind. In manchen Regionen ist die medizinische Versorgungslage so prekär, dass Patienten quer durch die Republik verlegt werden müssen. Manche Krankenhäuser haben eigenen Angaben zufolge längst mit der Triage begonnen. Sie müssen sich also entscheiden, welche Patienten noch beatmet werden können und welche nicht.
Zu Beginn der Woche hatte deshalb der Präsident der Region Karlovarský (Karlsbad) an die Regierung von Premier Andrej Babiš appelliert, Patiententransporte in die benachbarten - und hilfsbereiten - deutschen Bundesländer Sachsen und Bayern zu verhandeln. Ohne Erfolg. In Deutschland sei die Kliniklage ähnlich, wiegelte Gesundheitsminister Jan Blatný ab. Deshalb halte er "es nicht für fair, ihre Krankenhäuser mit unseren Patienten zu belasten, wenn die Tschechische Republik sich selbst helfen kann". Medienberichten zufolge soll Blatný vor der Ablösung stehen.
Babiš-Regierung in der Klemme
Noch im vergangenen Sommer hatte sich die Regierung in Prag für viele Corona-Lockerungen wie das Ende der Maskenpflicht feiern lassen. Doch auf die warme Jahreszeit voll trügerischer Sorglosigkeit entwickelte sich ab September eine sogenannte zweite Welle, der dann nach einem Lockdown-Abflauen Ende November eine noch heftigere Welle durch die Weihnachtszeit hinweg und über den Jahreswechsel hinaus folgte.
Die tschechische Pandemie-Dynamik geht einher mit einem Wechsel zwischen Lockerungen und Lockdowns, nun sind gerade wieder verschärfte Ausgangsbeschränkungen an der Reihe. Die Wucht des Virus veranlasste Babiš und sein Kabinett zum erneuten Nachsteuern. Ursprünglich hatte die tschechische Regierung eine Verlängerung des aktuellen Notstands bis 21. Februar angestrebt. Doch das Parlament billigte vorerst nur eine Verlängerung bis 14. Februar.
Für Tausende kommen derlei konsequente Schritte zu spät. Seit Beginn der Pandemie sind in Tschechien mindestens 16.826 Menschen im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben. Gemessen am Todesfallaufkommen je 100.000 Einwohner zählt Tschechien mit einem Wert von 156,4 zu den Flächenländern, die in der Pandemie bisher den höchsten Preis zu zahlen hatten.
Trotz der Situation wächst der Unmut in der Bevölkerung über die Einschränkungen. Berichte über breite Anti-Lockdown-Proteste oder über Regelverstöße wie etwa als Dienstreisen deklarierte Ski-Trips häufen sich. Zudem begehren zahlreiche Arbeitspendler in den Grenzregionen vermehrt gegen die Vorgaben auf. Die Existenzängste überragen die Furcht vor Ansteckungen. Die Regierung in Prag wandelt deshalb auf einem immer schmaler werdenden Grat zwischen Kontrolle der Pandemie und Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. In acht Monaten steht in dem Land die nächste Parlamentswahl an.
Als wären die gesellschaftliche Situation und die Notlage im Gesundheitswesen noch nicht dramatisch genug, zeichnen sich bereits zwei weitere neue Risikofaktoren ab: Seit Ende Dezember verbreitet sich in Tschechien die britische Coronavirus-Mutation B.1.1.7. Belege dafür haben Labortests ergeben. Zudem musste die Regierung bereits zwei Mal massive Lieferengpässe bei den Impfstoffen von Biontech/Pfizer und Moderna einräumen. Wie in Deutschland kommt auch die tschechische Impfkampagne nur schleppend voran. Laut Gesundheitsministerium sind gerade einmal rund 310.000 Dosen verabreicht worden. Eine davon bekam Premier Babiš – der 66-Jährige hat sich als Erster in Tschechien impfen lassen.
Quelle: ntv.de
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