Wie kommt es zu gefährlicher Nebenwirkung?

  01 April 2021    Gelesen: 1118
  Wie kommt es zu gefährlicher Nebenwirkung?

Seltene schwere Nebenwirkungen nach Impfungen mit dem Astrazeneca-Vakzin führen in Deutschland zu einem Impfstopp für Personen, die jünger als 60 Jahre sind. In neun Fällen endete die Komplikation sogar tödlich. Aber wie kommt es dazu? Und auf welche Warnsignale sollten junge Geimpfte achten?

Erneut schlägt der Impfstoff von Astrazeneca in Deutschland hohe Wellen. Zuletzt stehen Verdachtsfälle mit sehr seltenen Nebenwirkungen im Fokus - aufgrund dieser soll das Vakzin nun hauptsächlich nur noch an Menschen ab 60 Jahren verimpft werden. Aber was weiß man mittlerweile wirklich über diese sehr seltenen Fälle? Welcher Mechanismus steckt dahinter? Welche Symptome sind Warnsignale? Und wie hoch ist das Risiko? Hier eine Übersicht über die wichtigsten Fragen und Antworten:

Was wurde beobachtet?

Mehr als 2,8 Millionen Menschen wurden laut dem Robert-Koch-Institut inzwischen mindestens einmal mit Astrazeneca geimpft - danach wurde in 31 Fällen eine Sinusvenenthrombose gemeldet. Dabei handelt es sich um ein Blutgerinnsel in dem wichtigsten Abflussgebiet im Gehirn. Mit Ausnahme von zwei Fällen betrafen alle Meldungen Frauen im Alter von 20 bis 63 Jahren. Die beiden Männer waren 36 und 57 Jahre alt. In 19 Fällen kam es zusätzlich zur Sinusvenenthrombose zu einer Thrombozytopenie, also einem Verlust von für die Gerinnung des Blutes zuständigen Blutplättchen. In neun Fällen war der Ausgang tödlich.

Wie sieht der mögliche Mechanismus dahinter aus?

Es erscheint auf den ersten Blick paradox: Blutgerinnsel im Gehirn und der gleichzeitige Verlust von Blutplättchen, die eigentlich für die Blutgerinnung verantwortlich sind. Ein Team von Forschern aus Greifswald, Österreich und Kanada hat nun einen möglichen Mechanismus beschrieben. Die Studie ist als Preprint erschienen und wurde noch nicht von unabhängigen Fachleuten begutachtet.

Im Blut von vier Betroffenen hatten die Forscher verdächtige Antikörper identifiziert. Diese sind bekannt dafür, dass sie sich an bestimmte Substanzen im Körper binden: einer Verbindung aus Heparin und einem Protein namens Plättchenfaktor 4. Das Binden der Antikörper aktiviert Blutplättchen, die das Blut verklumpen lassen, was schließlich zu den Sinusvenenthrombosen führen kann.

Dieses Phänomen war bisher bekannt, allerdings als Heparin-induzierte Thrombozytopenie (HIT). Diese trat auf, wenn Patienten die Substanz Heparin als Gerinnungshemmer verabreicht wurde. Doch in den Fällen der Sinusthrombosen nach den Astrazeneca-Impfungen war keine Heparin-Gabe im Spiel. Deshalb haben die Forscher dem Ganzen einen anderen Namen gegeben: Vaccine Induced Immune Thrombocytopenia (VIPIT) - zu Deutsch: impfungsinduzierte Immun-Thrombozytopenie.

Was löst diesen Mechanismus aus?

Das kann bisher noch nicht befriedigend beantwortet werden. Eine bisher ungeklärte Frage ist etwa: Wenn kein Heparin im Spiel ist, was genau verbindet sich dann mit dem Plättchenfaktor 4, löst damit die Antikörperreaktion und in der Folge die Sinusvenenthrombose aus? Die Forscher aus Greifswald und ihre internationalen Kollegen stellen die Vermutung an, dass der Vektor, also das Trägervirus im Astrazeneca-Impfstoff, diesen Effekt ausgelöst haben könnte. Bei dem Vektor handelt es sich um ein harmloses, bei Menschen nicht vermehrungsfähiges Virus aus der Familie der Adenoviren - Erkältungsviren von Schimpansen -, dessen Erbgut so verändert wurde, dass es den Bauplan für das Spike-Protein von Sars-CoV-2 enthält.

Eine andere offene Frage: Woher kommen die Antikörper, welche die Verklumpung des Blutes auslösen? Waren diese Antikörper bei den Patienten bereits vor der Impfung vorhanden - oder wurden sie erst durch die Impfung gebildet?

Was kann man unternehmen, wenn nach einer Impfung der Ernstfall eintritt?

Da dieser Mechanismus bei VIPIT in abgewandelter Form bereits bekannt sei, gebe es eine Therapiemöglichkeit für die Patienten, sagte Alice Assinger, Leiterin am Institut für Gefäßbiologie und Thromboseforschung an der Medizinischen Universität Wien. "Noch beruhigender ist die Tatsache, dass jedes mittelgroße Krankenhaus über diese Therapiemöglichkeit verfügt und Patienten damit rasch und sicher geholfen werden kann."

Wer bereits eine Erstimpfung erhalten hat und jünger als 60 Jahre ist - auf welche Symptome sollte geachtet werden, um VIPIT zu vermeiden?

Wer vier bis 16 Tage nach einer Impfung mit dem Astrazeneca-Vakzin anhaltende Kopfschmerzen entwickelt oder punktförmige Hautblutungen bei sich entdeckt, sollte sich dringend in ärztliche Behandlung begeben, rät das für die Sicherheit von Impfstoffen zuständige Paul-Ehrlich-Institut (PEI).

Könnte man die Astrazeneca-Impfung verändern, um sie sicherer zu machen?

Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach verweist auf Twitter auf einen Vorschlag von Rolf Marschalek, einem Experten für Heparin-induzierte Thrombozytopenie (HIT). Demnach könnte eine Senkung der Dosis bei der Astrazeneca-Impfung eine Lösung sein. "In der Zulassungsstudie wirkte der Impfstoff dann sogar besser, und Nebenwirkungen müsste seltener sein", schreibt Lauterbach. Ein weiterer Vorteil dieser Strategie: Neben weniger Nebenwirkungen gäbe es gleichzeitig die doppelte Menge an Impfstoff.

Gibt es ähnliche Phänomene bei anderen Corona-Impfstoffen?

Nicht nur beim Impfstoff von Astrazeneca, auch in Zusammenhang mit den Vakzinen von Moderna und Biontech/Pfizer sind Fälle aufgetreten, die Ähnlichkeiten aufweisen. Dabei trat eine sogenannte Immunthrombozytopenie (ITP) auf - eine Krankheit, bei der sich das körpereigene Immunsystem gegen die Blutplättchen (Thrombozyten) richtet. Die Fälle werden derzeit von dem zuständigen PRAC-Komitee der europäischen Arzneimittelagentur (EMA) eingehend untersucht.

Wie hoch ist das Risiko für VIPIT?

Die Häufigkeit von VIPIT liegt laut Bernd Salzberger, Bereichsleiter Infektiologie am Universitätsklinikum Regensburg, insgesamt bei etwa 1:100.000. Diese sei jedoch durchaus relevant. Denn fast ausschließlich seien Frauen bis zum Alter von 63 Jahren betroffen. Bei jüngeren Frauen sei ein komplizierter Verlauf einer Covid-Erkrankung jedoch so selten, dass "die Chance der Vermeidung eines tödlichen Verlaufs durch die Impfung bei Frauen ohne Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) in der gleichen Größenordnung wie das Risiko dieser seltenen Nebenwirkung liegt".

Warum ist die schwere Nebenwirkung nicht schon bei den klinischen Studien aufgefallen?

Klinische Studien können aufgrund der begrenzten Anzahl an Studienteilnehmern sehr seltene Nebenwirkungen nicht zuverlässig aufdecken. Bei dem Vakzin von Astrazeneca erhielten etwas mehr als 20.000 Menschen mindestens eine oder zwei volle Dosen des Impfstoffs. Dabei fallen jedoch seltene Nebenwirkungen durchs Raster, die bei weniger als 1 von 100.000 Geimpften auftreten.

In Großbritannien wurde Astrazeneca bereits massenhaft eingesetzt - warum trat das Problem dort nicht auf?

Im Vereinigten Königreich sind bisher vier explizite Fälle der Sinusthrombose bei insgesamt 13,7 Millionen Impfungen gemeldet worden. Das dortige "Yellow Card"-Meldesystem lieferte bisher jedoch noch weitere fast 50 unspezifischere Fälle in Zusammenhang mit Immun-Thrombozytopenien, allgemein Thrombozytopenien und zerebralen Thrombosen. Robert Klamroth, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin am Berliner Vivantes Klinikum im Friedrichshain, verwies auf Berichte englischer Kollegen, die seiner Aussage nach unzufrieden mit dem "Yellow Card"-Meldesystem in Großbritannien sind, weil es "überhaupt nicht standardisiert" sei. "Aber dort, wo es immerhin so eine leichte Standardisierung gibt, berichten Kollegen von einer Zunahme der Fälle, vor allem seitdem jüngere Menschen geimpft werden."

Was sagt Astrazeneca zu dem Ganzen?

Der britisch-schwedische Impfstoffhersteller Astrazeneca hat nach der erneuten Einschränkung des Einsatzes seines Coronavirus-Impfstoffs in Deutschland den Nutzen des Präparats betont. Die Zulassungsbehörden in Großbritannien und der Europäischen Union sowie die Weltgesundheitsorganisation seien zu dem Schluss gekommen, dass der Nutzen des Mittels die Risiken in allen Altersgruppen deutlich überwiege, teilte das Unternehmen mit.

Wie bewertet die EMA das Risiko?

Anders als Deutschland rät die EU-Arzneimittelbehörde EMA vorerst nicht zu Einschränkungen bei der Anwendung des Corona-Impfstoffs von Astrazeneca. "Nach dem jetzigen wissenschaftlichen Stand gibt es keine Belege, die dafür sprechen, die Verwendung dieses Impfstoffs in irgendeiner Bevölkerungsgruppe zu beschränken", sagte EMA-Chefin Emer Cooke. Die Überprüfung von neuen Hinweisen auf die Gefahr spezieller seltener Blutgerinnsel im Gehirn laufe aber noch. Eine aktualisierte Empfehlung der EMA sei für die Sitzung ihres Sicherheitsausschusses vom 6. bis 9. April zu erwarten.

n-tv


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