Knatterton und Flackerlicht sollen Alzheimer aufhalten

  21 April 2024    Gelesen: 370
  Knatterton und Flackerlicht sollen Alzheimer aufhalten

Alzheimer ist eine der häufigsten neurodegenerativen Erkrankungen weltweit. Eine Heilung gibt es nicht. Doch eine regelmäßige Behandlung mit Licht und Tonsignalen könnte die Symptome mildern - und vielleicht sogar aufhalten. Das prüfen zurzeit mehrere Studien. Fachleute sind zuversichtlich.

Es klingt fast zu einfach, um wahr zu sein: Eine Stunde täglich einen knatternden Kopfhörer mit Flackerlicht-Spezialbrille aufsetzen, um Demenz vorzubeugen. Etliche klinische Studien prüfen gerade, ob eine optische und akustische Stimulation im Frequenzbereich von Gamma-Wellen eine Demenz verzögern, bessern oder gar verhindern kann. Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Stimulierung mit 40 Hertz (Hz) - also 40 Impulsen pro Sekunde - im Gehirn eine Art Gewebereinigung anregt, samt Entsorgung schädlicher Stoffwechselprodukte.

Das, so behaupten manche Forschende, könne auch jene Ablagerungen aus dem Gehirn entfernen, die als Ursache der häufigsten Demenzform gelten: der Alzheimer-Krankheit. Was dabei genau passiert, berichtete kürzlich ein US-Forschungsteam im Fachblatt "Nature" nach Versuchen an Mäusen. Grob gesagt sorgen die Gamma-Wellen demnach dafür, dass im Gehirn zwischen den Nervenzellen viel Flüssigkeit zirkuliert und Alzheimer-typische Proteinklumpen ausschwemmt.

Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, Lars Timmermann, spricht von "faszinierenden Einblicken". "Diese Studien eröffnen neue Einsichten", sagt der Leiter der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Marburg.

Eine Goldgrube für Anbieter

Ob die Aktivierung von Hirnzellen im Gamma-Frequenzbereich aber auch therapeutisches Potenzial hat, ist offen. Klar ist: Eine wirksame Vorbeugung wäre für den Anbieter eine Goldgrube. "Das Thema ist extrem attraktiv", sagt Wolf Singer, langjähriger Direktor am Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung und maßgeblich an der Entdeckung von Gamma-Wellen beteiligt. "Die ganze Welt spricht über Alzheimer."

Kein Wunder: Allein in Deutschland betrifft diese häufigste Demenz-Form etwa eine Million Menschen, Tendenz steigend. Zwar ist ihre Ursache bislang nicht genau geklärt. Der Hauptverdacht richtet sich aber gegen das Proteinfragment Beta-Amyloid (Aß), das sich im Gehirn zwischen Nervenzellen ansammelt.

In den USA kam vor gut einem Jahr der Antikörper Lecanemab auf den Markt, der diese Aß-Plaques entfernen soll und Studien zufolge im frühen Stadium das Fortschreiten der Krankheit moderat bremst. Er könnte bald auch in der EU zugelassen werden - geht jedoch mit beträchtlichen Nebenwirkungen wie Hirnödemen und Mikroblutungen einher.

40-Hz-Stimulierung im Gehirn

Möglicherweise könnte auch die Stimulierung mit Gamma-Wellen Aß abräumen - aber auf andere Weise. Diese Sinnesreize sollen Nervenzellen im Gamma-Wellen-Bereich in Schwingung versetzen und so den Reinigungsprozess starten. Timmermann sieht eine Parallele zu kognitiven Prozessen: "Bei bestimmten Hirnaktivitäten sehen wir Aktivität von Neuronenverbänden im Bereich von 40 Hz", sagt er und verweist als Beispiele auf das Lernen von Sprache, das Erkennen von Bildern oder Entscheidungsprozesse.

Was bei der 40-Hz-Stimulierung im Gehirn passiert, beschreibt die Studie des Teams um Li-Huei Tsai vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) im Fachblatt "Nature". Die Hirnforscherin hat das Unternehmen Cognito Therapeutics mitgegründet, das derzeit in diversen Studien prüft, ob die synchronisierte opto-akustische Stimulierung - mit dem eigens entwickelten Headset "Spectris" - Menschen mit leichten bis moderaten Alzheimer-Symptomen helfen kann.

Hirnspülung durch glymphatisches System

In "Nature" schreibt das Team, bei speziellen genetisch veränderten "Alzheimer-Mäusen" steigere die opto-akustische Stimulierung bei 40 Hz die neuronale Aktivität und senke gleichzeitig die Konzentrationen von Aß im Gehirn. Verantwortlich dafür sei das sogenannte glymphatische System: Der recht neue Begriff kombiniert das lymphatische System - das außerhalb des Gehirns Gewebe reinigt - mit den Gliazellen, die daran maßgeblich im Gehirn beteiligt sein sollen.

Der Studie zufolge sorgt die Stimulierung dafür, dass im Gehirn der Mäuse besonders viel Flüssigkeit durch das Gewebe zirkuliert. Dieses Nervenwasser transportiere das Aß zwischen den Zellen aus dem Gehirn. "Die Zellverbände werden besser durchspült, und der Abfall zwischen den Zellen wird entfernt", erläutert der Neurologe Timmermann, der nicht an der Arbeit beteiligt war. "Das ist faszinierend."

Außerhalb des Gehirns fand das Team in jenen Lymphgefäßen, die die Hirnflüssigkeit ableiten, einen erhöhten Durchmesser, was für einen verstärkten Abtransport spricht. Und nicht zuletzt: Die angrenzenden Lymphknoten enthielten vermehrt Beta-Amyloid.

"Der Hippocampus ist das Nadelöhr für Gedächtnisprozesse"

So faszinierend diese Vorgänge bei Mäusen sind: Ob sie beim Menschen das Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit aufhalten oder verzögern, bleibt abzuwarten. So ist etwa der Frankfurter Experte Singer "verhalten skeptisch". Letztlich hänge ein Erfolg der Therapie davon ab, dass die Gamma-Wellen nicht nur die sensorischen Areale im Gehirn erreichen. "Mit der Kombination aus optischen und akustischen Reizen will man möglichst viele Hirnregionen in diesen Rhythmus zwingen", sagt Singer.

Das mag für den Cortex funktionieren, ein wichtiges Ziel sei jedoch jenes tiefer gelegene Areal, das maßgeblich für das Gedächtnis zuständig ist: der Hippocampus. "Der Hippocampus ist das Nadelöhr für Gedächtnisprozesse", sagt Thomas Gasser vom Uniklinikum Tübingen. "Ob die Gamma-Wellen auch dieses Hirnareal erreichen, ist fraglich."

"Je früher, desto besser"

Und selbst, falls die Stimulierung das schaffen sollte, gibt es noch ein weiteres Problem: Den ersten Symptomen der Alzheimer-Krankheit geht ein jahre- bis jahrzehntelanger schleichender Prozess voraus, bei dem Nervenzellen in einer Kettenreaktion absterben. "Man müsste das schon frühzeitig machen, um diese Kaskade aufzuhalten", sagt Gasser. "Je früher, desto besser."

Derzeit prüft ein gutes Dutzend Studien das Potenzial des Ansatzes an Menschen - noch gibt es dazu keine Ergebnisse. Die meisten Untersuchungen sollen im Laufe des Jahres 2025 enden, dann folgt die Auswertung. "Wir brauchen Beobachtungszeiträume von mindestens zwei, besser fünf bis zehn Jahren, um sagen zu können, ob es einen therapeutischen Effekt gibt oder nicht", sagt Timmermann. "Es wird noch ein ganzes Jahrzehnt brauchen, bis wir sicher wissen, ob und welche Form von Intervention hilfreich sein könnte und welche nicht."

Immerhin: Die Gamma-Wellen-Behandlung gilt Studien zufolge als sicher. "Wir gehen davon aus, dass diese Stimulierung das gesunde Gehirn nicht schädigt", sagt Timmermann. Dagegen sind Antikörper wie Lecanemab, der in der EU wohl kurz vor der Zulassung steht, nicht nur sehr teuer, sondern auch teils mit gravierenden Nebenwirkungen verbunden. Im Vergleich dazu erscheint das Aufsetzen von Kopfhörer und Spezialbrille zu Hause für täglich eine Stunde eher schonend - falls es denn etwas nützen sollte.

Ansatz auch gegen Parkinson und Multiple Sklerose?

Wie umtriebig Tsais Labor schon jetzt ist, zeigt eine weitere Studie an Mäusen im Fachjournal "Science Translational Medicine", diesmal zu Krebstherapien. Dort berichtet eine Gruppe um die Forscherin, dass die 40-Hz-Stimulierung die Nebenwirkungen einer Chemotherapie - in diesem Fall mit Cisplatin - aufs Gehirn bessert. Demnach verringerten die Gamma-Wellen Entzündungsreaktionen und DNA-Schäden an Zellen, auch in Gedächtnistests schnitten die Tiere besser ab als in einer Vergleichsgruppe.

Auch gegen Parkinson und Multipler Sklerose will Tsai den Nutzen der Gamma-Wellen-Stimulation prüfen. "In Bezug auf eine klinische Anwendung konzentriert sich mein Labor zurzeit hauptsächlich auf Alzheimer", erläutert sie. "Aber hoffentlich können wir diesen Ansatz auch für einige andere Anwendungen testen."

Quelle: ntv.de, Walter Willems, dpa


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