"Beim Spazieren passiert garantiert nichts"

  13 April 2021    Gelesen: 711
  "Beim Spazieren passiert garantiert nichts"

Nachts nicht auf die Straße, aber tagsüber ins Büro? Die Menschen haben an mancher falschen Stelle Angst vor einer Corona-Ansteckung, erklärt Gerhard Scheuch - und die Politik trage dazu bei. Wo tatsächlich Gefahren lauern und wie groß sie sind, erklärt der Aerosol-Experte im Interview.

ntv: Dr. Scheuch, Sie sind ein Aerosol-Experte und Sie sagen, die Corona-Krise ist im Grunde ein Innenraum-Problem. Was heißt das im Einzelnen?

Gerhard Scheuch: Das ist nicht nur meine Meinung, das ist die Meinung von vielen Wissenschaftlern, die auf dem Gebiet der Aerosol-Forschung arbeiten. Es ist ein Innenraum-Problem, weil sich die Menschen in Innenräumen anstecken. Kollegen aus China haben das schon im letzten Frühjahr publiziert, dort wurde eine ganz große Untersuchung gemacht. Es wurden über 7000 Infektionen nachvollzogen und von diesen fand eine einzige im Freien statt. Also, von über 7000 Infektionen waren die allermeisten in Innenräumen. Und damals hat der Kollege aus China schon geschrieben, dass die Transmission, also die Übertragung von Viren von einer Person zur anderen, ein Innenraum-Problem ist. Ganz deutlich hat er das damals schon formuliert. Und das war eigentlich der Augenblick, in dem mir klar wurde, das hat etwas mit Aerosolen zu tun.

Das heißt, wenn ich draußen jogge, spazieren gehe, mich treffe, dann kann im Grunde nichts passieren?

Nein. Da kann garantiert nichts passieren. Wenn Sie joggen, spazieren gehen, wandern, Ski fahren, rodeln, was auch immer, dann wird nichts passieren. Im Außenbereich kann nur dann etwas passieren, wenn Sie sehr lange sehr eng mit einer Person zusammenstehen, sich direkt gegenüberstehen und unterhalten. Dann stehen Sie in der Aerosolwolke Ihres Gegenübers und dann können Sie sich, über eine längere Zeit, anstecken. Da wäre es dann vielleicht sinnvoll, eine Maske zu tragen oder sich im Spazierengehen zu unterhalten, wo man sich nicht direkt gegenübersteht. Aber ansonsten ist die Ansteckungsgefahr im Freien null.

Sie sagen "über eine längere Zeit". Von welchen Zeiträumen sprechen wir da, auch im Hinblick auf die Mutanten?

Bisher gingen wir davon aus, dass man ungefähr 5 bis 15 Minuten braucht, um sich im Freien zu infizieren, wenn man sich gegenübersteht. Diese Zeit könnte sich natürlich verkürzen, wenn die Mutanten wirklich so viel ansteckender sind, wie man im Augenblick berichtet. Dann sind es nicht mehr 5 bis 15, sondern 3 bis 10 Minuten. Das ist die Zeitspanne, mit der man rechnen könnte.

Das heißt, im Außenraum sind wir relativ sicher. Kommen wir in die Innenräume. Kann man sagen, wie viel Virus-Material angesammelt sein muss, damit sich jemand anderes infiziert?

Man weiß das noch nicht genau. Man geht im Augenblick davon aus, dass man zwischen 400 und 3000 Viren einatmen muss, damit eine Infektion starten kann. Da kann ich ein Beispiel geben: Es gab einen Bericht, auch aus China, da wurde vor dem Mund von infizierten Personen gemessen und da hat einer 400.000 Viren pro Minute ausgeatmet. Das war aber eine Einzelbeobachtung. Dort wurde auch festgestellt, dass 75 Prozent der Infizierten überhaupt keine Viren ausatmen. Das deckt sich ja mit den epidemiologischen Befunden, dass 75 Prozent der Leute niemanden anstecken. Aber wenn Sie so einem 400.000-Viren-Emitter begegnen, dann ist das natürlich gefährlich. Dann haben Sie als Infizierter einen Raum relativ schnell verseucht und wenn dann jemand in den Raum kommt, reicht wahrscheinlich eine Minute aus, um sich zu infizieren.

Das heißt, da muss gar kein direkter Kontakt stattfinden? Die infizierte Person kann schon raus sein und die andere Person kommt rein?

Genau. Wenn ich im Büro sitze und vier Stunden arbeite, dann habe ich ungefähr 100 Millionen Viren in den Raum gepustet. Wenn ich dann nach Hause gehe und zwei Stunden später kommt jemand in mein Büro und atmet nur zehn Atemzüge ein, dann ist er schon infiziert. Man muss also keinen direkten Kontakt haben. Das ist zwar nicht die Regel, aber solche Infektionen finden statt. Der Aufzug ist ein Beispiel, über das berichtet wurde, da haben sich Leute in einem Aufzug angesteckt, weil vorher ein Infizierter im Aufzug gefahren war.

Welche Rolle können da Raumlüfter spielen? Helfen die?

Die helfen uns. Gerade in dem Fall, den ich eben geschildert habe. Wenn ich vier Stunden im Raum sitze, dann habe ich 100 Millionen Viren reingepustet. Hätte ich einen Raumluftfilter laufen - das habe ich selbst schon getestet - dann wären es nur noch vier Millionen. Das heißt, ich kann 90 bis 95 Prozent der Viren aus der Luft herausfiltern. Lüften ist natürlich noch besser. Wenn ich alle 25 Minuten das Fenster aufmache, kann ich das noch weiter reduzieren.

Lüften und Raumfilter können im Innenraum also auf jeden Fall helfen. Sie haben auch nachgewiesen, dass die Raumhöhe bei der Übertragung eine Rolle spielt.

Ja, es geht eigentlich um das Raumvolumen. Und je höher ein Raum ist, umso mehr Volumen hat er. Und in der Regel steigen ausgeatmete Aerosol-Partikel nach oben, weil die warme Luft, die man ausatmet, meistens wärmer ist als die Umgebungsluft - wenn Sie nicht gerade das Zimmer auf 37 Grad geheizt haben. Und dann ist es natürlich günstig, wenn der Raum sehr hoch ist, dann kommt die kontaminierte Luft nicht mehr so schnell mit Personen in Berührung. Wobei sich natürlich die Aerosole sehr schnell im Raum verteilen.

Mit Gerhard Scheuch sprach Katrin Neumann

Bei dem Artikel handelt es sich um die aktualisierte Fassung eines Beitrags vom 19. Februar.

Quelle: ntv.de


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