Bevor der Bundestag heute in erster Lesung über die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes berät, wird über die bundesweite Corona-Notbremse kontrovers diskutiert. Der SPD-Rechtspolitiker Johannes Fechner schließt aus, dass seine Bundestagsfraktion den Gesetzesentwurf in der aktuellen Form mitträgt. "Wenn es keine Änderungen an dem Gesetzesentwurf in seiner jetzigen Form gibt, wird die SPD-Fraktion nicht zustimmen", sagte Fechner der "Rheinischen Post". Die Ausgangssperren seien zu pauschal gefasst, es müsse weitere Ausnahmen geben. "Es muss beispielsweise möglich bleiben, mit der Partnerin oder dem Partner abends noch spazieren zu gehen oder draußen Sport zu machen."
Ähnlich hatte sich bereits der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Carsten Schneider, geäußert. Andernfalls drohe eine Eskalation der sozialen Situation bei denjenigen, die in beengten Verhältnissen leben. Die SPD-Fraktion stellt sich damit nicht nur gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel, sondern auch ihren Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl. Vizekanzler Olaf Scholz hatte die Ausgangssperre als angemessen verteidigt. "Das hat überall geholfen", erklärte er. "In vielen Staaten der Welt ist das gemacht worden. Und es hat die Inzidenzwerte nach unten gebracht"
"Nicht sachgerecht"
Neue Kritik an den Plänen der Bundesregierung kam auch von FDP-Chef Christian Lindner. Er nannte die Planungen am Donnerstagabend im ZDF "nicht sachgerecht und verfassungsrechtlich problematisch". Maßnahmen, die sinnvoll wären, würden auf dem Tisch liegen. "Und ausgerechnet, wieder mit heißer Nadel gestrickt, kommt die Regierung mit einem Gesetz, das die offensichtlich pauschal nicht wirksame Ausgangssperre zum Gegenstand hat." Zudem schließe es Möglichkeiten aus, auf Basis von Tests Öffnungsschritte zu gehen, und nehme als alleinige Orientierungsmarke "diese 100er-Inzidenz".
Der Bundestag berät am Vormittag in erster Lesung über die geplante Änderung des Infektionsschutzgesetzes gegen die dritte Corona-Welle. Bundeseinheitlich sollen Regelungen für eine Verminderung der Kontakte getroffen werden, wenn in einem Landkreis oder einer Stadt mehr als 100 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen kommen.
Justizministerin verweist auf Erfolge von Ausgangssperren
Ab 21 Uhr sollen etwa Ausgangsbeschränkungen greifen, um zu verhindern, dass sich Menschen privat in Innenräumen treffen und gegenseitig anstecken können. Noch am Nachmittag sollen die geplanten Schritte in einer öffentlichen Anhörung im Gesundheitsausschuss beraten werden. Die Verabschiedung des Gesetzes ist für Mittwoch vorgesehen.
Justizministerin Christine Lambrecht sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe zu den Ausgangsbeschränkungen: "In vielen Ländern mit hohen Inzidenzwerten - Portugal, Irland oder Frankreich - haben Ausgangsbeschränkungen ganz offensichtlich gewirkt. (...) Die Lebenswirklichkeit zeigt: Menschen gehen abends aus dem Haus, um andere zu besuchen. Und das ist wieder eine zusätzliche Kontaktaufnahme, die eine Infektionskette in Gang setzen kann", so die SPD-Politikerin.
Laut einer Befragung von infratest dimap im Auftrag des ARD-Deutschlandtrends hält eine knappe Mehrheit der Deutschen die Ausgangssperren in Gebieten mit hoher Inzidenz für richtig. 51 Prozent sprachen sich demnach dafür aus, 46 Prozent dagegen. Die Anhänger von CDU/CSU, SPD, Grünen und Linken plädierten mehrheitlich für eine Ausgangssperre, die Anhänger von FDP und AfD lehnten diese ab.
MVs Gesundheitsminister wirbt um freiwillige Helfer
Auch der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, hält die bundesweite Notbremse für sinnvoll. "Was die Gesetzespläne zur Notbremse angeht, das meiste davon ist sinnvoll und leider unerlässlich", sagte Reinhardt der "Passauer Neuen Presse". Die Belastungsgrenze der Krankenhäuser sei noch nicht überschritten, viele Kliniken stünden aber kurz davor. Das gelte für die normalen Stationen, besonders aber für die Intensivabteilungen. "Insgesamt bedeutet das für die Krankenhäuser, dass man wieder mehr und mehr andere Eingriffe und Behandlungen zurückfahren muss, um Kapazitäten für Corona-Patienten zu schaffen", so Reinhard.
Der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Gernot Marx, verwies erneut auf die dramatische Lage: "Wir haben zwar noch einige Betten in einigen Regionen frei, aber es gibt Ballungsgebiete wie Köln, Bremen und Berlin, wo es richtig knapp wird", sagte Marx im Podcast "Leben in Zeiten von Corona" des "Mannheimer Morgen".
In Mecklenburg-Vorpommern appellierte Gesundheitsminister Harry Glawe an ehemalige Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, in den Kliniken bei der Patientenversorgung mitzuhelfen. "Wir brauchen qualifiziertes Personal, um die Herausforderungen der nächsten Wochen bewältigen zu können", sagte der CDU-Politiker. Es helfe bereits, wenn sich ehemalige Medizin-Fachkräfte für zwei oder drei Wochen oder einen Monat zur Hilfe bereiterklärten. In dieser Zeit könnten sich die Kollegen erholen, die momentan im Dienst seien, sagte der Minister. Auch müssten andere dringende Operationen abgearbeitet werden.
Quelle: ntv.de, ino/dpa
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