"Die Welt braucht das gestohlene Getreide"

  11 Juli 2022    Gelesen: 983
  "Die Welt braucht das gestohlene Getreide"

Der russische Präsident Wladimir Putin führt nicht nur Krieg gegen die Ukraine, sondern bestiehlt das Land auch noch. Aus den besetzten Gebieten im Osten und Süden klaut Russland tonnenweise Getreide und verschifft es illegal. Die Abnehmer greifen gern zu - auch, weil sie keine andere Wahl haben.

Anfang Juli hält die Türkei tagelang den russischen Frachter "Zhibek Zholy" im türkischen Hafen Karasu im Schwarzen Meer fest. Das Schiff ist vollbeladen mit Getreide - der Generalstaatsanwalt von Kiew spricht von bis zu 7000 Tonnen. Es soll aus der Ukraine stammen und von russischen Truppen gestohlen worden sein. Die ukrainische Regierung drängt die türkische, dass sie die Ladung beschlagnahmt und der Ukraine zurückgibt. Das ist aber anscheinend nicht passiert. Der Frachter hat den Hafen Karasu mittlerweile wieder verlassen. Nachdem es im Schwarzen Meer seinen Signalsender abgeschaltet hatte, ist es derzeit in Richtung Russland unterwegs. Was aus dem Getreide wird, ist unklar.

Bereits seit einigen Monaten wirft die Ukraine Russland vor, ukrainisches Getreide zu stehlen und exportieren. Die "Zhibek Zholy" unter russischer Flagge könnte der erste sichtbare Beweis dafür sein.

Ukrainisches Getreide über Russland exportiert

Stephan von Cramon-Taubadel beobachtet bereits seit einiger Zeit, dass Moskau mehr Getreide als üblich verkauft. "In russischen Getreidehändlerberichten, die ich zugespielt bekomme, ist die Rede von diesem sogenannten SMO-Getreide, special military operations-Getreide, aus den von Russland besetzten Gebieten im Süden und Osten der Ukraine", sagt der Professor für Agrarpolitik der Universität Göttingen im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".

In diesen Hauptproduktionsgebieten für Weizen seien große Getreidemengen entwendet worden. "Dieses Getreide wird vermutlich über Russland exportiert. Welchen Weg es genau geht, wissen wir nicht, aber die russischen Exportmengen sind dadurch größer geworden", so von Cramon-Taubadel.

Russische Besetzer geben Getreidediebstähle zu

Dass Russland Getreide aus der Ukraine stiehlt, ist ein offenes Geheimnis. Tonnenweise klauen die Angreifer Weizen und Co. aus den besetzten Gebieten und verkaufen es weiter. Mindestens eine halbe Million Tonnen sollen die russischen Truppen schon gestohlen haben, sagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Die Vereinten Nationen sprechen sogar von 700.000 Tonnen.

Die russische Regierung in Moskau sagt zwar, dass das nicht stimmt. Aber die russischen Verwaltungen in der Ukraine gehen ganz offen damit um. Die Besetzer der Gebiete im Süden und Osten des Landes haben schon zugegeben, dass sie gestohlenes Getreide per Zug oder LKW auf die Krim bringen. Von dort wird es verschifft und ins Ausland verkauft, sagt die russische Krim-Regierung. Unter anderem der Irak und Saudi-Arabien sollen zu den Kunden gehören.

"Man hört nicht nur von russischen Exporten nach Ägypten und Syrien, sondern in den letzten Wochen und Monaten auch nach Iran, Libyen, Türkei und Algerien. Das Getreide wird einfach dringend benötigt momentan. Wir kaufen in Deutschland auch weiterhin russisches Gas. Zu sehr zu moralisieren, das ist ein bisschen schwierig in dieser Situation", gibt von Cramon-Taubadel zu bedenken.

Russland beliefert Syrien

Allein Syrien soll etwa 100.000 Tonnen gestohlenes Getreide aus der Ukraine bekommen haben, heißt es von der ukrainischen Botschaft in Beirut. Allerdings ist das Bürgerkriegsland militärisch abhängig von Russland und wird daher kaum hinterfragen, woher das Getreide wirklich kommt, betont der Agrarexperte.

Auch Ägypten kann jede Lieferung dringend gebrauchen. Das Land gehört zu den größten Weizenimporteuren der Welt. Ein Großteil, etwa 80 Prozent, kamen bisher aus Richtung Kiew und Moskau. Doch wegen des Angriffskriegs kommt aus der Ukraine weniger Weizen in Ägypten an. Unter anderem, weil die Häfen am Schwarzen Meer von Russland blockiert werden. Ukrainische Getreidefrachter sitzen fest. Und per Zug kann lange nicht so viel transportiert werden. Jetzt steckt Ägypten in einer Lebensmittelkrise - und in einer Zwickmühle.

Ägypten auf günstiges Getreide angewiesen

Ägypten habe 440.000 Tonnen Getreide von Russland, Frankreich und Rumänien gekauft, das im September, Oktober geliefert werden soll, berichtet Cramon-Taubadel. Über 200.000 Tonnen davon würden aus Russland kommen. "Da wird jetzt nicht auf der einzelnen Schiffsladung stehen, das ist gestohlenes Getreide aus der Ukraine, oder das ist garantiert rein russisches Getreide. Technisch kann man das vielleicht feststellen, aber mit Mischungen wird es sehr schwer, so etwas auseinanderzunehmen."

Ägypten wird das vermutlich kaum hinterfragen. "Am Ende ist die ägyptische Regierung auf zuverlässige und möglichst günstige Lieferungen angewiesen. Und da wird man vermutlich nicht ganz so genau kontrollieren können oder wollen", sagt der Agrarprofessor im Podcast.

Trotzdem scheint Ägypten nicht jede Lieferung blind anzunehmen. Im Mai hatte es zwei Schiffe mit gestohlenem ukrainischem Weizen wieder zurückgeschickt, berichtet das Wall Street Journal. Warum, ist allerdings unklar.

Weltmarktpreise ohne gestohlenes Getreide "viel höher"

Um das geklaute Getreide als das eigene verkaufen zu können, nutzt Russland einige Tricks. Laut einem BBC-Bericht schalten die Frachtschiffe ihre Tracking-Systeme aus. Das hat offenbar auch der russische Getreidetanker getan, der Anfang Juli von der Türkei festgehalten wurde. Oder die Frachter fahren extra über Russland, damit es so aussieht, als würden sie russisches Getreide einladen.

Eine andere Möglichkeit ist es, das ukrainische mit russischem Getreide zu mischen. Die Herkunft ist anschließend kaum mehr feststellbar.

Aber ohnehin schauen die Länder da gerade nicht so genau hin, meint Agrarexperte von Cramon-Taubadel im Podcast. "So unappetitlich das sein mag, dieses Getreide wird einfach dringend benötigt. Zum einen das von den Russen entwendete Getreide aus der Ukraine, das es bestimmt in nennenswerten Mengen gibt, aber auch die russische Ernte selbst natürlich. Wir brauchen dieses Getreide global betrachtet, da die Märkte sehr knapp sind, weil die Preise sonst wieder sehr stark ansteigen würden. Man möchte jetzt von den Russen überhaupt nichts kaufen, erst recht nicht Getreide, das sie aus der Ukraine gestohlen haben. Aber andererseits wäre die Weltmarktlage noch viel knapper und die Preise noch viel höher, wenn man dieses Getreide ausschließen würde."

Modulare Lagermöglichkeiten für Getreide

Die Getreideernte in der Ukraine beginnt gerade. Nachschub, den die Welt eigentlich dringend braucht. Doch die Bauern wissen bald nicht mehr, wohin mit der neuen Ernte. Viele Lagerhäuser wurden von den Russen zerstört - oder sind voll.

Noch etwa 20 Millionen Tonnen altes Getreide lagern im Land. Bald kommen 50 Millionen Tonnen an frischem Weizen, Mais, Gerste, Hafer oder Roggen dazu, schätzt die UN-Agrarorganisation FAO. Die Speicher haben aber nur Platz für etwa 60 Millionen Tonnen.

Hilft es, neue Speicher zu bauen, zum Beispiel an der polnischen Grenze, damit das Getreide gleich einfacher weitertransportiert werden kann? Große Silos könnten wieder das Ziel von Angriffen werden, gibt von Cramon-Taubadel zu bedenken. Der Bau sei kurzfristig auch schwierig. Relativ schnell könne man modulare Lagermöglichkeiten hinbekommen. Vorübergehend könne das Getreide in Silo-Schläuchen gelagert werden, wie man sie von der Heulagerung auf Feldern kennt. Dazu gebe es eine Initiative.

Der Experte sieht das aber nicht als dauerhafte Lösung. "Wenn die Ukraine über die Schwarzmeer-Häfen wieder exportieren kann, werden diese Investitionen fehl am Platz sein. Das kann auf Dauer nicht die Lösung für die großen Exportmengen sein, die die Ukraine produzieren kann."

Transport über Land teurer und ineffektiver

Normalerweise würde jetzt im Sommer die Ernte zu den ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer gebracht. Doch die werden noch von Russland blockiert, sind zerstört oder voller Minen. Daher steigt die Ukraine auf LKW und Zug um. Das ist teurer. Außerdem passt dort lange nicht so viel rein wie in einen riesigen Frachter. Gerade halb so viel wie sonst, 36 Millionen Tonnen, könne man auf dem Landweg transportieren, rechnet von Cramon-Taubadel vor.

Mittlerweile exportiert die Ukraine immerhin schon wieder 1,7 Millionen Tonnen pro Monat. Vor dem Krieg waren es fünf Millionen Tonnen, sagt Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir.

Schwierig macht den Transport über Land natürlich auch der Krieg. Die Kämpfe zerstören die Ernte und machen den Transport gefährlich.

Russland baut Marktmacht aus

Das nutzt Russlands Präsident Wladimir Putin für sich aus. Getreide ist knapp, und daher teuer. Mit dem zusätzlichen geklauten Getreide verdient Russland noch mehr. Das Land ist immerhin der größte Weizen-Exporteur der Welt. "Dass er explizit die Ukraine angegriffen hat, speziell wegen des Getreides, das würde ich nicht sagen. Aber es kommt alles sehr schön zusammen, dass er sich damit einen erheblichen Einfluss auf die Weltmärkte für Getreide sichern kann. Indem er versucht, sich die Ukraine einzuverleiben, würde Russlands Position auf den Agrarmärkten ganz erheblich gestärkt."

Und Getreide braucht die Welt dringend. Wegen der gestiegenen Preise sind laut UN Millionen Menschen von einer Hungersnot bedroht. Bis die ukrainischen Schiffe wieder im Schwarzen Meer ablegen können, muss erst einmal die russische Flotte vor den Häfen abziehen, hatte Außenministerin Annalena Baerbock gefordert.

Außerdem müssen die Minen im Wasser weggeräumt werden. Gerade die Minen, die sich losgerissen haben, sind für die Schiffe sehr gefährlich. Egal, unter welcher Flagge sie fahren.

Quelle: ntv.de


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