Am 5. Dezember tritt nach mehr als neun Monaten Krieg das europäische Ölembargo in Kraft. Dann darf kein russisches Öl mehr auf dem Seeweg nach Europa geliefert werden. Auf diese Weise wurde bisher mit Abstand das meiste - 90 Prozent - transportiert. Auch beim Erdgas ist die Entkopplung erkennbar, selbst ohne Embargo: Aktuell beziehen EU-Staaten über russische Pipelines nur noch ein Fünftel der Gasmengen, die sie vor gut einem Jahr bezogen haben.
Für die russischen Staatsfinanzen ist das ein gewaltiges Problem, denn man verliert den größten Kunden. Seit Kriegsbeginn hat Russland Öl und Gas im Wert von etwa 234 Milliarden Euro verkauft, schätzt das Zentrum zur Erforschung von Energie und sauberer Luft (CREA). Rund die Hälfte des Geldes kam aus Europa.
Im russischen Haushalt für das Jahr 2023 sollte also eine dreistellige Milliarden-Lücke klaffen. Das Finanzministerium in Moskau geht aber davon aus, dass die Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft lediglich um 6 Prozent sinken werden. Denn der Kreml hat eine simple Lösung für sein Problem: Asien wird Europa als Großkunde ersetzen. Nur können sich Ökonomen und Russland-Experten nicht erklären, wie genau das funktionieren soll.
Betreibt Russland eine Schattenflotte?
Bisher scheint die Substitution allerdings ein voller Erfolg. Mitte November fielen die russischen Öl-Lieferungen nach Westeuropa bereits 90 Prozent niedriger aus als vor dem Krieg. Zuletzt kamen noch 95.000 Fass Rohöl pro Tag in Rotterdam an, hat das Finanzportal Bloomberg berichtet. Anfang Februar waren es noch mehr als 1,2 Millionen Fass täglich. Diesen Ausfall haben vor allem China, Indien und die Türkei mehr als wett gemacht: Sie füllen ihre Depots mit stark rabattiertem russischem Öl, das gleichzeitig immer noch teuer genug ist, um die Kassen des Kremls zu füllen.
Zusammen mit dem Embargo führen EU und USA im Dezember allerdings auch einen Preisdeckel für russisches Öl ein. Wo der liegt, ist noch nicht klar. Zuletzt waren 60 Dollar pro Fass als Obergrenze im Gespräch. Ökonomen prognostizieren, dass sich der Verkauf für den russischen Haushalt erst ab diesem Preis rentiert.
Das sollte die neuen Abnehmer eigentlich freuen, weil sie damit in der Theorie garantiert günstige Preise erhalten. Allerdings beziehen China, Indien und die Türkei das Öl wie die EU vor allem auf dem Seeweg, wo die EU zwei weitere Hebel in der Hand hält: Russisches Öl wird bisher vor allem von griechischen, maltesischen und zyprischen Tankern transportiert, die in Großbritannien, Norwegen und Schweden versichert sind - und sich an die Preisgrenze halten müssen, sonst gibt es keine Versicherung. Die sind für Reeder ein Muss, weil damit nicht nur Schäden an Schiff und Ladung, sondern auch Ölkatastrophen abgesichert werden. Neue Lieferungen sind ab Dezember also nur möglich, wenn Russland genügend eigene Tanker, möglicherweise sogar eine Schattenflotte mit anderen Versicherern, auftreiben kann.
"Was können asiatische Länder wirklich abnehmen?"
Noch komplizierter gestaltet sich die Lage für Moskau beim Erdgas, obwohl das nur selten mit Schiffen geliefert wird. Auch hier ist oder war der mit Abstand größte Kunde Europa: 2021 wurden fast 70 Prozent der russischen Gasexporte durch Pipelines in Richtung EU geschickt, genauso wie die Hälfte der russischen LNG-Exporte. Für den Kreml ist die Lösung klar: Das Erdgas soll genauso wie das Öl künftig vor allem nach China geleitet werden. Doch dafür fehlt die nötige Infrastruktur.
"Was können asiatische Länder wirklich abnehmen?", fragt auch Politologe Alexander Libman von der Freien Universität Berlin im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". "Europa wird weniger importieren, kauft aber den internationalen Markt leer. Asiatische Länder brauchen also Alternativen. Wenn Russland bereitsteht, ist das super, aber wie soll Russland das Gas ohne Pipelines liefern?"
55 Milliarden Euro für einen Flop
In seinem Westen hat Russland über mehr als 50 Jahre und mit viel europäischem Know-how ein weitreichendes Röhrennetzwerk aufgebaut. Allein in Deutschland enden mit Nord Stream 1 und 2, Jamal und Transgas gleich vier Stränge - in China bisher nur einer: 2019 wurde die etwa 55 Milliarden Euro teure Pipeline Power of Siberia in Betrieb genommen.
Durch die Kraft Sibiriens sollen eigentlich 61 Milliarden Kubikmeter Gas im Jahr strömen. Sie hat damit eine größere Kapazität als Nord Stream 1 oder Nord Stream 2. Ob diese Menge aber jemals erreicht wird, ist fraglich. Denn Gazprom soll die Reserven in dem Gasfeld, aus dem die Röhre gespeist wird, bei der Erschließung größer angegeben haben, als sie eigentlich sind. In diesem Jahr fließen deswegen voraussichtlich nur 15 Milliarden Kubikmeter Gas durch die Pipeline - ein Viertel der geplanten Menge.
Gazprom hat geflunkert
Ein zweiter Strang befindet sich bereits in Planung. Auch die Power of Siberia 2 soll ungefähr die Kapazität von Nord Stream 1 haben und diesen Teil der russischen Lieferungen nach Deutschland vollständig ersetzen. Baubeginn ist allerdings erst 2024 und auch mit einer deutlich längeren Route nach China als ursprünglich geplant. Die führt künftig nämlich durch die Mongolei. Eine Notlösung, berichtet das unabhängige russische Investigativmedium "The Insider" mit Sitz in Lettland. Gazprom habe nachträglich eine Umleitung zum ersten Strang eingefügt, um die dort fehlende Liefermenge ausgleichen zu können.
Ein Problem, das es eigentlich gar nicht geben sollte, denn Moskau und Peking hatten bereits 2015 den Bau einer dritten Pipeline im Fernen Osten von Russland vereinbart. Die Röhre mit dem Arbeitstitel Power of Siberia 3 sollte Gas aus den reichen Vorkommen der russischen Sachalin-Insel durch das Japanische Meer führen und im äußersten Nordosten von China anlanden. Wie "The Insider" berichtet, hat Gazprom das Projekt allerdings hinausgezögert und die dafür erworbenen Spezialschiffe lieber in der Ostsee eingesetzt, um die lukrativere Nord-Stream-2-Pipeline zu bauen - die jetzt nicht mehr gebraucht wird.
Unbestätigten Berichten zufolge soll die Fernost-Röhre trotzdem bald fertig sein und ab 2026 Gas nach China transportieren können. Westliche Experten halten das für optimistisch: Sie gehen davon aus, dass Russland erst in 10 bis 20 Jahren die nötige Infrastruktur für neue Kunden in Asien errichtet hat - eher 20, weil Expertise und Bauteile aus dem Westen fehlen.
Minderwertige russische LNG-Technologie
Komplikationen, die in ähnlicher Form auch beim Transport von Flüssiggas über die See auftreten. Zwar verfügt Russland bereits über drei fertige LNG-Terminals, davon liegt aber nur eines strategisch günstig an der russischen Sachalin-Insel und diente bisher vor allem zur Versorgung von Japan. Das zweite Terminal befindet sich nahe der finnischen Grenze in der Ostsee, also weit weg von Asien. Das dritte Terminal wurde im hohen Norden von Russland auf der Jamal-Halbinsel errichtet - und leidet ebenfalls unter dem fehlenden europäischen Know-how.
Nach Angaben von "The Insider" hatte sich das Betreiberunternehmen Novatek schon vor einem Jahr über minderwertige LNG-Technologie beschwert, die erstmals komplett aus russischer Produktion stammte. Nach Kriegsbeginn und weiteren Sanktionen stellte Novatek im Sommer klar, dass die russische LNG-Industrie staatliche Unterstützung benötigen wird, um den Forschungsrückstand auf westliche Öl- und Gasunternehmen aufzuholen. 560 Millionen Dollar wollte das Unternehmen aus Moskau haben, fünf Millionen Dollar bekam es.
Der Sargnagel womöglich nicht nur für das Jamal-Terminal, sondern auch für drei weitere, die Russland in der Arktis errichten will. Deren Betrieb wäre "The Insider" zufolge allerdings schon deshalb fraglich, weil die Navigation durch die gefährliche See am Nordpol im Winter ohne westliche Satellitenbilder nahezu unmöglich ist. Und auch die erhält Russland seit Februar nicht mehr.
Die Zukunft von Russland als Öl- und Gaslieferant wird von vielen Fragezeichen umgeben. Die scheint man in Moskau nicht wahrzunehmen, in Peking aber schon: Vor wenigen Tagen hat China einen 27-jährigen Vertrag über LNG-Lieferungen abgeschlossen - mit Katar.
Quelle: ntv.de
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