Literarische Werke wurden darauf nicht verfasst, aber die Ostraka erlauben uns heute einen tiefen Einblick in den Alltag außerhalb der Schreibstuben der Gelehrten. Eine Gruppe von Forschern der Universität von Tel Aviv hat sich die Ostraka aus Tel Arad, einer Garnisonsstadt an der Grenze der Wüste Negev zur Judäischen Wüste, näher angesehen - und festgestellt, dass erstaunlich viele Bewohner des Königreichs Juda lesen und schreiben konnten.
Oberschicht im Exil - Spannend sind der Ort und die Zeit deshalb, weil Wissenschaftler sich bereits seit langer Zeit streiten, wann die erste bedeutende Phase der Entstehung und Sammlung von Bibeltexten in Jerusalem stattfand: vor oder nach der Zerstörung der Stadt durch die Babylonier im Jahr 586 vor Christus?
Das Datum markiert einen schmerzhaften Punkt in der jüdischen Geschichte. Der babylonische König Nebukadnezar II. eroberte nicht nur Jerusalem, sondern ließ auch den Tempel Salomos mit der Bundeslade zerstören. Die jüdische Oberschicht musste die kommenden 60 Jahre in Babylon im Exil verbringen. Die gängige Forschungsmeinung datiert die Entstehung vieler biblischer Texte erst in diese Exilzeit.
Die Ostraka aus Tel Arad stammen allesamt aus einem sehr engen Zeitfenster, aus den letzten Jahren vor der Eroberung Jerusalems. Die judäische Armee unterhielt in der Festung einen wichtigen Stützpunkt und die meisten der Notizen betreffen den Alltag der Soldaten: Bestellungen von Wein, Öl und Mehl, Korrespondenzen mit den benachbarten Festungen, Truppenverlegungsbefehle.
Vor allem die Nahrungsmittellogistik bezieht sich hauptsächlich auf die Kittiyim, eine griechische Söldnertruppe. Der Adressat dieser Nachrichten ist ein gewisser Eliashib, der als Quartiermeister der Festung für die Verpflegung der Soldaten zuständig war. Bekannt sind die Scherben seit den Ausgrabungen in Tel Arad in den Sechzigerjahren.
Jetzt aber nahmen sich die Archäologen, Historiker und Mathematiker 18 Notizen auf 16 Ostraka vor, deren Botschaften noch immer besonders gut lesbar sind. Wie viele verschiedene Menschen hatten die Texte verfasst? Und was verrät die Anzahl der Schriftkundigen über das Leben im Königreich Juda kurz vor der Zerstörung Jerusalems?
Graphologisches Gutachten - In einem ersten Schritt rekonstruierten die Wissenschaftler am Computerbildschirm die einzelnen Buchstaben, die mit der Zeit fast unleserlich geworden waren. Dann untersuchte ein Programm unterschiedliche Charakteristiken - die Profile der Striche oder die Winkel der Striche zueinander.
In einem letzten Schritt bestimmte anhand dieser Charakteristiken ein Algorithmus, wie wahrscheinlich es ist, dass zwei Texte von ein und derselben Person verfasst wurden. Ein also vom Computer erstelltes graphologisches Gutachten.
Zusammen mit einer Auswertung der Textinhalte und der Fundumstände der Ostraka kamen die Forscher auf sechs unterschiedliche Autoren für die 18 Notizen. Einige dieser Personen sind sogar aus den Texten bekannt. Quartiermeister Eliashib ist der Empfänger dreier Ostraka, der Verfasser eines anderen und wird zusätzlich noch auf einem weiteren Ostrakon erwähnt.
Auch einer seiner untergeordneten Leute konnte schreiben, denn er nennt Eliashib auf einem Ostrakon "mein Herr". Des Weiteren wird Malkiyahu, Kommandeur der Festung, in einem Ostrakon erwähnt und ist der Empfänger eines weiteren. Und schließlich gibt es noch einen zweiten unbekannten Kommandeur, der ebenfalls einen Text niederschrieb.
Alphabetisiertes Ägypten - Haben aber nun alle diese Leute ihre Botschaften selbst aufgeschrieben - oder gab es Schreiber, die das für sie erledigten? Mindestens zwei Menschen mit unterschiedlichen Handschriften verfassten Texte in Tel Arad. Für eine so winzige Festung aber, folgern die Forscher, wären zwei Schreiber zu viel. Auch der persönliche Ton der Texte spricht eher gegen professionelle Hilfe.
Damit ergibt sich ein eindeutiges Bild: Die judäische Gesellschaft vor der Zerstörung Jerusalems war erstaunlich breit alphabetisiert. Vom ranghohen Militär bis hin zum Gehilfen des Quartiermeisters konnten die Menschen lesen und schreiben. Nur selten können Archäologen so eindeutig feststellen, dass nicht nur die Oberschicht, sondern auch gewöhnliche Leute Buchstaben und Wörter meisterten.
Der hohe Grad der Alphabetisierung gegen Ende des Judäischen Königreichs, folgern die Forscher in ihrem Aufsatz im Fachblatt "Proceedings of the National Academy of Sciences", sei ein idealer Nährboden für das Verfassen von religiösen Texten gewesen. Die Entstehung von Schriften wie dem 5. Buch Mose sei in diesem Zusammenhang gut vorstellbar.
Auch andere Kulturen legten großen Wert auf Bildung. In Ägypten war zu Zeiten des Mittleren Reiches (ca. 2100 bis 1800 vor Christus) das Lesen und Schreiben eine Grundvoraussetzung für eine Karriere als Arzt, Priester oder hochrangiger Militär. Und am Hof des assyrischen Königs Assurbanipal lernten auch die Mädchen, Keilschrifttexte zu verfassen - Jahrzehnte vor dem Fall Jerusalems im Jahr 586 vor Christus.
Fehlende Schriften - Nach dem Fall Jerusalems war es dann mit Lesen und Schreiben in der Region weitgehend vorbei. Unter babylonischer Herrschaft verfassten die in Jerusalem verbliebenen Judäer ebenso wenige Texte wie unter der nachfolgenden Regierung der Perser oder im frühen Hellenismus.
Noch haben die Archäologen in Jerusalem und dem südlichen Hochland keine einzige hebräische Inschrift aus den Jahren zwischen 586 und 350 vor Christus sicher datieren können. Und wenn die Menschen in diesen Jahren etwas aufschrieben, dann nutzten sie statt des Hebräischen das Aramäische.
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