Denn die Geschichte des Sowjetkommunismus mit seinen Ausläufern wie dem mauerbewehrten Satellitenstaat DDR gilt unserer postideologischen Öffentlichkeit als ein abgeschlossenes und am Ende glücklich überwundenes dunkles Kapitel. Der Buchautor und Journalist Boris Reitschuster sieht das ganz anders.
Reitschuster erkennt darin eine kollektive Selbsttäuschung, die er für die Wurzel der Unfähigkeit der demokratischen Gesellschaften hält, das Ausmaß der Bedrohung durch den antiwestlichen Kurs Russlands unter Wladimir Putin zu begreifen.
Putins Ideologie ist der Machterhalt
Die Gedenkstätte am vielleicht berühmtesten Hotspot der Ost-West-Konfrontation, an dessen Originalzustand nur noch ein pittoreskes Wachhäuschen mit als alliierte Soldaten kostümierten Statisten erinnert, hat er nicht von ungefähr als unseren Treffpunkt ausgewählt.
Zwar habe Putins Herrschaftssystem nichts mehr mit der kommunistischen Ideologie alter Prägung am Hut, betont er. Es sei eher ein Hybrid aus alter sowjetischer Gleichschaltung, völkischem Nationalismus und staatlich gelenktem Raubtierkapitalismus. Letztlich ist "Putins einzige Ideologie der Machterhalt", wie Reitschuster in seinem Buch feststellt.
Doch zur Sicherung seiner – eng mit mafiösen Strukturen verflochtenen – Herrschaft könne der Kreml-Herr auf die intakt gebliebenen Strukturen der sowjetischen Sicherheitsapparate und auf alte KGB-Netzwerke im Ausland zurückgreifen. Und in Deutschland auf alte, reaktivierte Stasi-Seilschaften.
Der Krieg der Zukunft und seine Mittel
"Putins verdeckter Krieg. Wie Mokau den Westen destabilisiert" heißt Reitschusters soeben (bei Econ) erschienenes Buch, in dem er auf gut 300 Seiten Belege dafür zusammenträgt, dass der Kreml systematisch die Unterminierung unserer liberalen Demokratie betreibt. Doch handelt es sich dabei tatsächlich um einen Krieg?
Reitschuster stützt sich bei dieser Definition auf die 2013 von Generalstabschef Waleri Gerassimow vorgestellte neue russische Militärdoktrin, in der die Bedeutung "von politischen, wirtschaftlichen, informationspolitischen, humanitären und anderen nicht-militärischen Mitteln" für den "Krieg der Zukunft" hervorgehoben wird , "darunter auch Maßnahmen des Informationskampfes und ,Spezialoperationen`, wie im Russischen verdeckte Operationen des Geheimdiensts genannt werden."
Reitschuster trägt in seinem Buch umfassend und detailliert die vielfältigen Aspekte der internationalen Machenschaften Putins zusammen. Für ihn sind der hybride Angriffskrieg gegen die Ukraine, die russische Intervention in Syrien und Operationen wie die im "Fall Lisa" – als Moskau die fiktive Vergewaltigung einer 13-jährigen durch Flüchtlinge dazu nutzte, Russlanddeutsche gegen die deutsche Polizei und Justiz aufzuwiegeln – verschiedene Facetten derselben Globalstrategie.
In Syrien gelinge es Putin "geradezu virtuos, die westlichen Politiker an der Nase herumzuführen", indem er sich ihnen als unverzichtbarer Stabilisierungspartner präsentiert, sich tatsächlich aber als "Schutzpatron von diktatorischen Regimen weltweit" etabliert – und nebenbei mit seinen Bombardements weitere Flüchtlingsscharen nach Europa treibt. Im Westen verfügt der Kreml mittlerweile über Alliierte in den verschiedensten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen sowie politischen Lagern.
Von rechts bis links, von Griechenland bis Frankreich
Dass Moskau dem europäischen Rechtsextremismus, vom Front National in Frankreich über Neonazi-Organisationen in Griechenland, Ungarn und der Slowakei bis zur deutschen AfD eng verbunden ist, hindert es nicht, einstige kommunistischen "Bruderparteien" wie in Deutschland die SED-Nachfolgepartei "Die Linke" weiter bei der propagandistischen Stange zu halten.
Auf breiter Front schreitet laut Reitschuster darüber hinaus eine "Korrumpierung der Eliten" Europas voran. Ex-Kanzler Gerhard Schröder steche dabei als der "wichtigste Lobbyist des Kreml in Deutschland" und "Grüßaugust eines Autokraten" hervor.
Putin-Kritikern hängen die russische Propaganda und ihre Lautsprecher im Westen gerne an, sie seien "russophob". Im Falle Reitschusters freilich blamiert sich diese Denunziation von selbst. Denn der 1971 in Augsburg geborene Autor nennt Russland "meine zweite Heimat", für die auch weiterhin tiefe Zuneigung empfindet.
Im Vorwort seines Buches schwärmt er von seiner "Sehnsucht nach diesem wunderbaren Land, in dem ich den Großteil meines Erwachsenenlebens verbracht habe" und nach "der russischen Sprache", deren Ausdrucksreichtum und Humor mein Leben bereichern.
Gerade darum aber "wäre es Verrat, so zu tun, als sei nichts geschehen. Eine kleine kriminelle Clique hat Russland privatisiert, beutet es aus und unterdrückt es, hetzt es mit Gehirnwäsche auf und stürzt es aus Angst um den eigenen Machterhalt in Abenteuer und Aggressionen."
Er musste Russland nach Morddrohungen verlassen
Schon als 17-Jähriger war Reitschuster im Rahmen eines Schüleraustauschs erstmals in Russland. "Ich habe mich dort sofort verliebt", erzählt er – und meint nicht nur, aber auch das Land. Von 1999 bis 2015 war er Korrespondent des "Focus" in Moskau, bis er Russland wegen Morddrohungen verlassen musste.
Dabei verfügt Reitschuster über keine familiären Wurzeln in Russland. Seinen Vornamen wie seine Affinität zur russischen Kultur hat er seiner Mutter und ihrer Bewunderung für die russische Literatur zu verdanken.
Reitschusters Buch war noch nicht im Handel, da wurden seine Thesen bereits von manchen als "Verschwörungstheorien" abgetan. Eine vorab in den Medien verbreitete Enthüllung, russische Geheimdienste rekrutierten in Sportschulen, in denen die russische Kampfsport-Technik "Systema" gelehrt wird, Kombattanten für eine Art Untergrundarmee im Westen, klingt in der Tat verwegen.
300 Männer gebe es in Deutschland, die darauf vorbereitetet würden, gegebenenfalls auf Anweisung des Kreml Unruhen zu schüren. Reitschuster stützt diese Behauptungen auf die Informationen eines ungenannten europäischen Geheimdienstes.
Das verweist auf ein Dilemma der Beweisführung Reitschusters. Wenn Putin wirklich einen geheimen Feldzug gegen die westlichen Demokratien führt, liegt es in der Natur der Sache, dass handfeste Belege dafür allenfalls auf geheimdienstlichem, kaum aber auf journalistischem Wege zu beschaffen sind.
Man ist meist auf Indizien angewiesen, die sich, wie Reitschuster sagt, "wie in einem Puzzle" zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Dann aber droht man in eine Falle zu geraten – nämlich in allen möglichen verdächtigen Ereignissen ein solches passendes Puzzleteil zu erblicken.
Selbst die Beobachtungen eines anonymen "renommierten Verhaltenswissenschaftlers mit jahrelanger Erfahrung im arabischen Raum", die nahelegen, russische und syrische Geheimdienste könnten hinter den Ausschreitungen der vergangenen Silvesternacht stecken, referiert Reitschuster in seinem Buch – ohne sie sich freilich zu eigen zu machen.
Doch Reitschuster will sich wegen solcher Einwände keine "Denkverbote" über das ganze mögliche Spektrum russischer Destabilisierungsaktivitäten auferlegen. "Hätte jemand 1988 all das behauptet, was nach der Wende an Subversionstätigkeit von KGB, Stasi und SED in der Bundesrepublik ans Licht gekommen ist, man hätte ihn für verrückt erklärt".
Heute sollte etwas nicht allein deshalb aus der Debatte ausgeschlossen werden, weil dafür der letzte Beweis fehle. Schließlich gehe es darum, eine Öffentlichkeit zu sensibilisieren und aufzurütteln, der es an Erfahrungen mit autoritären Apparaten fehle.
Unsere Misere ist hausgemacht
Der Gefahr, über der unablässigen Beschäftigung mit den skrupellosen Desinformationstechniken Putins darauf zu verfallen, seinerseits mit Gerüchten zu arbeiten, ist sich Boris Reitschuster durchaus bewusst. Er legt daher großen Wert darauf zu betonen, dass ihm nichts ferner liege, als Putin zum dämonischen Urheber aller "beunruhigenden Fehlentwicklungen in Deutschland und Europa" zu erklären.
"Der größte Fehler, den wir machen können", schreibt er, "wäre es, Wladimir Putin dafür die Schuld in die Schuhe zu schieben." Unsere Misere sei "hausgemacht, und nur wir selbst können sie in den Griff bekommen. Aber um das zu schaffen, müssen wir uns genau ansehen, wie stark Wladimir Putin inzwischen versucht, Öl ins Feuer zu gießen, und warum seine Brandbeschleuniger so überaus gut zünden."
Quelle : welt.de
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