Biden wartet, wartet - und stürzt Harris ins Ungewisse

  22 Juli 2024    Gelesen: 433
  Biden wartet, wartet - und stürzt Harris ins Ungewisse

In weniger als vier Wochen entscheidet sich das Karriereende von US-Präsident Biden: Erst verursacht er bei seiner Partei Panik. Die Zweifel der Wähler schlagen in den Kongress durch. Schließlich verzichtet er widerwillig auf seine Kandidatur. Was macht seine Vize Kamala Harris jetzt?

Jetzt also doch, nur etwas mehr als drei Monate vor der Wahl im November: US-Präsident Joe Biden tritt nicht wieder an und unterstützt stattdessen seine Vize Kamala Harris. Seit Monaten schon hatten sich Vermutungen ums Weiße Haus gerankt, die Demokraten ließen sich nichts anmerken, business as usual im Kongress. Währenddessen ritten die den Republikanern zugetanen Medien auf Bidens Alter herum, stellten ihn als altersschwach und nicht geeignet dar. Sie sind jetzt obenauf, suhlen sich in ihrem "Wir haben es euch ja gesagt". Und attackieren Harris.

Vieles ist nun theoretisch möglich, bis zu einer chaotischen Kampfabstimmung beim Parteitag der Demokraten in vier Wochen zwischen verschiedenen Bewerbern, auch von außerhalb der Partei. Und das in einem System, welches für das Gegenteil ausgelegt ist. Ob Republikaner oder Demokraten: Die Parteikolosse der USA bewegen sich alle vier Jahre in langen, ritualisierten Abläufen für ihren Präsidentschaftskandidaten. So wie die Republikaner in den Tagen vor Bidens Ankündigung, die Trump nominierten.

In ihrem Vorwahlkampf entschieden sich die Demokraten, Joe Bidens Wunsch nach einer zweiten Amtszeit zu unterstützen. Der ist schließlich bereits US-Präsident und hatte Donald Trump schon 2020 in die Schranken gewiesen. Warum sollte es im November nicht noch einmal funktionieren? Doch sie wurden mit voller Wucht aus den vertrauten Abläufen gerissen. Biden hat erkennen müssen: Es ergab keinen Sinn mehr. Wie kam es dazu? Und was macht Harris jetzt?

Ein politischer Wimpernschlag

Es gibt da dieses Buch, ein Bestseller in den USA, das sich damit befasst, wie der Verstand funktioniert: "Schnelles Denken, langsames Denken", oder ganz vereinfacht: intuitiv oder rational. Das rationale Denken der Demokraten setzte am Abend des 27. Juni aus, schon ein paar Minuten nach Beginn des TV-Duells gegen Trump. Biden war zu keinem Moment Herr der Lage, bekam kaum einen graden Satz zusammen und machte den Republikaner Trump damit im Kontrast zu einem Mr. Zuverlässig. Kein Wunder, dass die Demokraten intuitiv in Panik verfielen. Mit einem Kandidaten in diesem Zustand war keine Wahl zu gewinnen.

Dreieinhalb Wochen danach hat Biden seinen Rückzug verkündet; geradezu einen politischen Wimpernschlag später. Die Unterstützer der Partei brachen unaufhörlich weg, prominente Spender sprachen sich gegen ihn aus. Die Logik für eine zweite Amtszeit Bidens, in langer Findung und mit viel "Das haben wir schon immer so gemacht", war durch den Schock der Fernsehdebatte und seiner Folgen in sich zusammengefallen. Schlag auf Schlag wurden Zweifel und Entscheidungen gegen Biden publik; der Großteil der Fernsehsender etwa erklärte dessen Wahlkampf schon am selben Abend für gescheitert. Die Wähler hatten schon lange vorher in Umfragen mehrheitlich gesagt, Biden sei zu alt für eine weitere Amtszeit. Sie konnten sich bestätigt fühlen.

Was kommt nun, das war die Frage. Die US-Medien sortierten sich neu; nicht nur die üblichen Verdächtigen mit konservativer Schlagseite, sondern auch andere wie die "New York Times" riefen Biden zum Verzicht auf die Kandidatur auf. Die Maschinerie lief an; Tag für Tag gab es Wasserstandsmeldungen darüber, wer ihm von der Fahne gegangen war. Er räumte bei einem Wahlkampfauftritt ein, nicht mehr der alte Joe zu sein. Im ersten Interview musste der Präsident vor einem Journalisten Abbitte leisten, ein skurriler Vorgang. Nur Gott könne ihn von seiner Kandidatur abhalten, behauptete er zugleich.

Biden wollte beweisen, dass er es noch kann, gab zu, er müsse es zwar langsamer angehen lassen und sei kein junger Hüpfer mehr, aber den womöglich wichtigsten Job westlicher Demokratien könne er auch noch vier weitere Jahre machen. Sein Argument: Weisheit und Erfahrung seien wichtig und Trump eine zu große Gefahr. "Watch me", "guckt mir zu", hatte Biden in den vergangenen Monaten und Jahren gesagt, wenn er auf sein fortgeschrittenes Alter angesprochen wurde oder Zweifel an seinen Fähigkeiten ausräumen wollte.

Sie nahmen ihn beim Wort und sahen, wie Biden immer häufiger zum Schatten seiner selbst wurde. Alle Welt hörte vorletzte Woche beim NATO-Gipfel, wie er für einen Augenblick den ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj mit Kremlchef Wladimir Putin verwechselte, später nannte er seine Vizepräsidentin Donald Trump statt Kamala Harris. Sein Team versuchte es mit vorgefertigten Fragen in Radiointerviews und Wahlkampfauftritten inmitten der Diskussionen, wie lange er noch durchhalten würde.

Bidens Ende wird greifbar

Biden telefonierte mit Parteispitzen und Kongressmitgliedern, die er häufig seit Jahrzehnten kennt. Er betonte bei jeder Gelegenheit, er sei der Kandidat, er bleibe im Rennen, niemand werde ihm von der Fahne gehen. Die Schlinge zog sich enger, Abgeordnete riefen Biden zum Verzicht auf, auch aus Angst, dass seine Schwäche sie aus dem Kongress fegen könnte bei der Wahl. Als Nancy Pelosi, die Grande Dame der Demokraten, im Repräsentantenhaus durchklingen ließ, das letzte Wort sei noch nicht gesprochen, da wurde das Ende greifbar.

Trump wurde angeschossen, Bidens ohnehin wackligen Umfragewerte gaben leicht nach, die Republikaner feierten und nominierten Trump in Milwaukee. Am Mittwoch teilte das Weiße Haus mit: Der Präsident hat sich mit Covid infiziert. Statt Wahlkampf zu betreiben, verkroch Biden sich in seinem Strandhaus im Bundesstaat Delaware. Dort "schäumt er vor Wut", weil er von seinen Verbündeten im Stich gelassen werde, schrieb die "New York Times". Kongressmitglieder der Demokraten gaben am Donnerstag anonym eine Schätzung ab: drei bis fünf Tage, dann werde er seinen Verzicht ankündigen.

Sie behielten recht. Am Samstag rief Biden zwei enge Berater zu sich ins Haus und teilte seine Entscheidung der Familie mit. Am Sonntag veröffentlichte der Präsident seinen Brief per Tweet - eine Minute, nachdem er sein Wahlkampfteam informiert hatte. Kurze Zeit später erklärte er seine Unterstützung für Harris. Bei Fragen hatte Biden in den vergangenen Wochen immer wieder deren Fähigkeiten gelobt, dass sie sofort und problemlos einspringen könne als Staatschefin.

Gigantische Herausforderung

Doch Biden erklärte in seinem Brief, er werde seine Amtszeit vollenden. Wenn es dabei bleibt, kann Harris sich nun auf den Wahlkampf konzentrieren. Die Herausforderung ist gigantisch; Bidens Delegierte, die er in den Vorwahlen gewonnen hatte, sind nun frei in ihrer Entscheidung. Harris muss sie von sich überzeugen, ebenso wie Abgeordnete und Senatoren. Andere Kandidaten können dasselbe tun. Die Partei hat angekündigt, es werde einen "transparenten und geordneten" Prozess geben. Harris hat zwar den Vorteil, direkt Bidens Wahlkampfkasse nutzen zu können. Auch dessen Wahlkampfteam arbeitet ab sofort für Harris. Wenn sich die Partei jedoch für einen anderen Bewerber entscheiden sollte, könnte wohl ein Großteil des Geldes auch diesem übertragen werden.

Am Sonntag telefonierte die Vizepräsidentin schon mit Kongressmitgliedern. In ihrem Heimat-Bundesstaat Kalifornien organisierten Delegierte ihre Unterstützung für sie. Der unabhängige Kandidat Robert F. Kennedy junior ätzte, die Demokraten hätten sich für Harris wegen des Geldes entschieden und behauptete, nur er könne Trump schlagen. Falls die Partei ihm also die Nominierung anböte, wäre er gesprächsbereit. So weit wird es aller Voraussicht nach nicht kommen. Die Parteivertreter aller Bundesstaaten haben schon ihre Unterstützung für Harris signalisiert. Unter anderen Alexandra Ocasio-Cortez, eine der wichtigsten Stimmen des progressiven Parteiflügels, hat sich hinter Harris gestellt. Biden wird diese Woche eine Fernsehansprache an die Nation halten.

Wie man es auch dreht, die Demokraten wagen einen Sprung ins Ungewisse. Zwar gibt es schon Umfragen zu einem hypothetischen Duell von Harris und Trump, in denen sie auch nicht besser als Biden abschneidet. Aber in der Partei, bei Wahlkämpfern und Trumps Gegnern dürfte man auf einen Knalleffekt hoffen. Harris wäre die erste Präsidentin der USA, ihr Wort hat allein deshalb beim essenziellen Thema Abtreibungen mehr Gewicht, sie ist zudem keine Weiße; alles bedeutsam, um bestimmte Wählergruppen zu motivieren, auch ihre Stimme abzugeben. Mit einer "bunten Koalition" aus jungen und schwarzen und weiblichen Wählern hatte Biden 2020 ebenfalls Trump geschlagen. Harris müsste etwas Ähnliches gelingen.

Quelle: ntv.de


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