Die ukrainischen Streitkräfte haben seit ihrem Einmarsch in die russische Region Kursk vor knapp drei Wochen mehr als 240 russische Soldaten gefangen genommen. Die "Washington Post" konnte 247 Gefangene anhand von Bildmaterial identifizieren.
Dafür seien 130 Fotos und Videos ausgewertet worden, berichtet die Zeitung. Diese seien teils von einem Fotografen in einem Gefängnis gemacht worden, teils stammen sie aus Material, das die ukrainischen Soldaten in sozialen Medien hochluden. Darin sind noch deutlich mehr Gefangene zu sehen, sie wurden, wenn sie sich nicht unabhängig identifizieren ließen, allerdings nicht mitgezählt. Die Behauptung des ukrainischen Militärs, es habe Hunderte Russen gefangen genommen, sei dennoch valide. Ein Nutzer kommt in einer eigenen Zählung auf X aktuell auf eine Zahl von 460 gefangenen Russen. Die sind jedoch nicht im Einzelnen identifiziert.
Die "Washington Post" berichtet zudem, dass sich unter den Gefangenen viele Wehrpflichtige befinden. In sieben Videos bezeichnen sich die Gefangenen demnach als Wehrpflichtige - Männer im Alter zwischen 18 und 30 Jahren, die ein obligatorisches Jahr Militärdienst leisten müssen. Ihre Gefangennahme ist für den russischen Präsidenten Wladimir Putin besonders heikel. Sie sollen eigentlich nicht in Kampfeinsätze geschickt werden. Offenbar waren sie jedoch in größerem Umfang für die Sicherung der Landesgrenze zur Ukraine verantwortlich. "Der Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf untergräbt den Gesellschaftsvertrag zwischen den russischen Familien und der Regierung, der unter Putins Führung seit 1999 Bestand hat", so Dara Massicot, Senior Fellow des Russia and Eurasia Program der Carnegie Endowment for International Peace.
Viele Wehrpflichtige noch vermisst
Vor wenigen Tagen hatte der russischsprachige Dienst der BBC berichtet, dass 81 russische Rekruten in der Region Kursk vermisst würden. Weitere 38 habe man ebenfalls anhand von Videos identifiziert. Sie befanden sich in ukrainischer Gefangenschaft.
Einschätzungen von Experten stützen die These, dass Moskau an der Grenze zur Ukraine auf viele unerfahrene Kräfte setzt. "Es ist lange her, dass ich ein Video gesehen habe, in dem sich russische Soldaten massenhaft ergeben", sagte Massicot der "Washington Post". "Mein Instinkt, als ich diese Videos sah, war, dass es sich bei diesen Soldaten nicht um kampferfahrene Truppen handelte, die in der Ukraine gekämpft haben."
Mehrere Videos, die nur wenige Hundert Meter hinter der russischen Grenze, im Dorf Swerdlikowo, gedreht wurden, zeigen beispielsweise mindestens 29 gefangene russische Soldaten. Flankiert von bewaffneten ukrainischen Soldaten und mit über den Kopf erhobenen Armen werden sie von einer Drohne gefilmt, wie sie eine kleine Straße entlang nach Norden marschieren, die auf einer Seite von Bäumen und Wohnhäusern gesäumt ist.
In der Nähe des Grenzübergangs Sudscha zeigen Videos die Gefangennahme von mindestens 40 russischen Soldaten. Drohnenaufnahmen zeigen die Zerstörung von Gebäuden an einem Kontrollpunkt und russische Truppen, die weiße Fahnen als Zeichen der Kapitulation hissen.
Weder die ukrainische noch die russische Regierung teilt mit, wie viele russische Gefangene seit dem Start der Kursk-Offensive gefangen genommen wurden. Der Leiter eines Gefängnisses im Nordosten der Ukraine gab gegenüber der "Washington Post" an, dass binnen zehn Tagen 320 Russen zeitweise dort inhaftiert waren. Sie wurden im Anschluss in andere Gefangenenlager gebracht. Nach seiner Aussage seien gar 80 Prozent von ihnen Wehrpflichtige gewesen.
Vor dem Einmarsch in Kursk gab Putin an, dass Russland 6465 ukrainische Soldaten und die Ukraine 1348 russische Soldaten gefangen hielt. Keine der beiden Zahlen lässt sich unabhängig überprüfen.
230 Kriegsgefangene ausgetauscht
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnete die Gefangennahme so vieler russischer Gefangener als Auffüllung des "Austauschfonds" - also Soldaten, die gegen gefangene ukrainische Truppen eingetauscht werden könnten. Kyrylo Budanow, der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, sagte, man werde der Rückkehr der Kämpfer der Asow-Brigade, die bei der Verteidigung der Stadt Mariupol im Osten des Landes vor mehr als zwei Jahren gefangen genommen wurden, dabei Priorität einräumen.
Tatsächlich wurden erst am Samstag jeweils 115 Kriegsgefangene zwischen beiden Ländern ausgetauscht. Diesen Austausch hatten die Vereinigten Arabischen Emirate vermittelt. "Weitere 115 unserer Verteidiger sind heute nach Hause zurückgekehrt", erklärte Selenskyj. Es handele sich um Soldaten der Nationalgarde, der Streitkräfte, der Marine und des nationalen Grenzschutzdienstes.
Das russische Verteidigungsministerium teilte seinerseits mit, dass 115 russische Armeeangehörige, "die in der Region Kursk gefangen genommen wurden, als Ergebnis eines Verhandlungsprozesses aus den vom Kiewer Regime kontrollierten Gebieten zurückgekehrt" seien. Die Freigelassenen befänden sich derzeit auf dem Staatsgebiet des Verbündeten Belarus, fügte das Ministerium hinzu.
Quelle: ntv.de, als
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