“Keine Arbeit. Kein Geld. Alles Scheiße“

  27 April 2016    Gelesen: 1150
“Keine Arbeit. Kein Geld. Alles Scheiße“
Überall in Berlin entstehen wilde Camps. Auch in der Nähe des Ku`damms haben sich Rumänen auf einem Privatgrundstück eingerichtet. Die Anwohner sind verärgert. Doch der Stadt sind die Hände gebunden.
Das Tor zu einem besseren Leben, es ist ein schmaler Spalt in einem Bauzaun. Dieser Zaun steht nur 800 Meter vom Ku`damm entfernt, am nordöstlichen Rand von Charlottenburg. Er säumt eine grüne Brache, die sich zwischen einem Bahndamm und der Zufahrt zu einem Aldi-Parkplatz erstreckt.

Nicu muss jedes Mal den Bauch einziehen, wenn er sich durch diesen Spalt quetscht. Nur ein paar Schritte über eine Wiese, dann ist er da. Ein Zeltdorf. Hier haust der 50-Jährige seit einigen Wochen zusammen mit seinen Neffen und zwei Dutzend anderen Menschen, alle aus Rumänien, alle aus Bukarest, so sagen sie.

Von der Straße aus sieht man das Lager nicht. Es liegt versteckt hinter einem Hügel. Die Zelte sind Holzgerüste, notdürftig zusammengezimmert und mit Planen bedeckt. Nicu schlägt die Plane über einem Verschlag zurück. Eine Matratze, Wolldecken. Es riecht muffig.

Lohn gibt es bar auf die Hand

Die Bewohner dieses Zeltes haben Berlin in der vergangenen Nacht verlassen. Notgedrungen, wie Nicus Neffe Toporan, 20, in brüchigem Deutsch übersetzt, ein freundlicher Schlaks mit Bart und Basecap. "Keine Arbeit. Kein Geld. Alles Scheiße."

Das gilt auch für die Ausstattung dieses Camps. Kein Wasser. Kein Strom. Keine Toiletten. Man denkt an Bilder aus dem Flüchtlingslager im griechischen Idomeni. Doch die Bewohner dieses Camps sind keine Flüchtlinge. Es sind Männer aus dem EU-Land Rumänien, auf der Suche nach Arbeit.

Der Ku`damm ist ihr Revier. Hier schlagen sie sich durch als Bettler, Flaschensammler oder Fensterputzer. Alles Jobs, mit denen man schnell ein paar Euro verdienen kann. Ohne Deutschkenntnisse. Ohne Steuerkarte. Cash auf die Hand.

Er habe sechs Kinder, dolmetscht Toporan für seinen Onkel Nicu. Das jüngste acht, das älteste 21. Nicu steckt sich eine Zigarette an. Er sagt, in Rumänien habe er für acht Euro am Tag als Straßenkehrer gearbeitet. Das Geld habe vorne und hinten nicht gereicht. Deshalb ist er hier. "Wie soll ich sonst meine Kinder ernähren?"

Er trägt eine Steppweste über einem gestreiften Polohemd. Alles Spenden aus der Kleiderkammer der nahegelegenen Stadtmission. Doch erst jetzt sieht man, dass er keine Schuhe hat. Es ist ein befremdlicher Anblick. Nur zehn Fußminuten von Berlins teuerster Shoppingmeile hat sich die Armut aus dem Südosten Europas eine Nische gesucht.

Laute Musik, Alkohol, Streitigkeiten

Den Nachbarn ist das nicht verborgen geblieben. Beim Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf häufen sich Beschwerden. Einigen Anwohnern stinkt`s – im wahrsten Sinne des Wortes. In der Schlange vor der Kasse in der benachbarten Aldi-Filiale ist das Zeltlager das Gesprächsthema im Kiez.

Ein Familienvater klagt darüber, dass die Bewohner ihr Geschäft in der freien Natur verrichteten und ihren Müll nicht entsorgten. "Haben Sie auch schon die Ratten gesehen", fragt ihn die Kassiererin, eine resolute Endfünfzigerin. Die Rumänen kaufen auch bei ihr ein. Die Frau rümpft die Nase. Neben ihrer Kasse steht jetzt immer eine Dose Desinfektionsspray.

Seit mehr als einem Jahr gehe das schon so, sagen die Nachbarn. Anfangs hätten sie noch beide Augen zugedrückt. Dass diese Menschen in Not waren, war ja nicht zu übersehen. Einige brachten Wurst, Brot und Obst vorbei. Mit drei Zelten habe es begonnen, sagt der Familienvater. Doch dann kamen immer mehr, sogar im Winter blieben die Zelte stehen. Inzwischen sind es zwei Dutzend, und jetzt, da die Tage wieder länger werden, kann man die Bewohner nachts auch hören. Laute Musik, Alkohol, Streitigkeiten.

Das Grundstück gehört einer Privatperson

Marc Schulte (CDU), Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung und Ordnungsangelegenheiten, kennt das Problem. Er muss sich immer wieder die Frage gefallen lassen, warum der Bezirk denn tatenlos zusehe, wie dieser letzte grüne Flecken zwischen einer Aldi- und Lidl-Filiale "verslumme". Dabei ist Schulte gar nicht der richtige Adressat. Das Grundstück gehöre "einer Privatperson", sagt er. Die habe zwar versichert, sie wolle das Camp nicht dulden. Sie habe bislang aber nichts unternommen, um es räumen zu lassen.

Schulte sagt, man könne jetzt nur versuchen, den Schaden zu begrenzen. Das Umweltamt könne Bußgelder wegen illegaler Abfallentsorgung verhängen. Die Gesundheitsbehörde könne gegen die Ratten vorgehen. Die Nadelstichtaktik. Er klingt hilflos.

Für den Bezirk eine missliche Situation. Und nicht nur dort. An vielen Orten in der Hauptstadt sind solche Camps entstanden: zum Beispiel entlang der Spree, gegenüber des Kanzleramtes. Dort, sagt der Bezirksstadtrat, könne die Stadt wenigstens Streetworker hinschicken, die die Bewohner erst einmal über Hilfsangebote informierten, bevor sie sie schonend auf eine mögliche Räumung vorbereiteten.

Wie viele illegale Camps es derzeit in Berlin gibt, kann keiner sagen. Die Stadt geht von 3000 bis 6000 Obdachlosen aus. In Charlottenburg-Wilmersdorf kommt etwa die Hälfte von ihnen aus Rumänien. Und viele nehmen die Angebote der Wohlfahrt in Anspruch.

Explosive Gemengelage

Sylvia Richter sagt, sie habe damit kein Problem. Die Sozialpädagogin leitet die City-Station der Berliner Stadtmission in Charlottenburg, nur einen Steinwurf vom Ku`damm entfernt. Eine rundliche Frau, die etwas Mütterliches ausstrahlt. Sie kennt Toporan, Nicu und die anderen aus der Heilbronner Straße. Sie kommen regelmäßig hierher, um zu duschen oder ihre Klamotten zu waschen.

Die City-Station ist dienstags bis samstags von 16 bis 20.30 Uhr geöffnet. Nach jedem Wochenende stünden die Obdachlosen vor den beiden Duschen im Keller Schlange, sagt Richter. "Es gibt eine Warteliste von dreißig Leuten."

Es ist eine explosive Gemengelage, daraus macht Richter keinen Hehl. Regelmäßig gerieten sich deutsche und rumänische Obdachlose in die Haare. Argwöhnisch verfolgten die einheimischen Klienten, wie die Rumänen sich in der Kleiderkammer neu einkleideten, wie sie ihre Handys aufladen und in dem angeschlossenen alkoholfreien Restaurant den vergünstigten Kaffee dann mit Kleingeld bezahlten. Bettelgeld, sagt Richter.

Zwischen 200 und 300 Euro in Münzen sind es, die die Sozialpädagogin jede Woche in einem Rollkoffer zur Bank karrt, unter den misstrauischen Blicken ihrer Stammkunden. Die, so sagt sie, fragten sich schon manchmal, mit welcher Selbstverständlichkeit sich die Gäste die vom Staat und mit Spenden finanzierten Hilfsangebote ausschöpften. "Da ist Futterneid dabei."

Doch ist das ein Grund, die Menschen vor die Tür zu setzen? Richter sagt, sie frage ihre Klienten nicht nach ihrem Pass. Jeder habe ein Anrecht auf Hilfe. Und die Spendenbereitschaft der Charlottenburger sei groß. Aber langsam scheint die Einrichtung an eine Grenze zu stoßen. Sie sagt, es sei höchste Zeit, dass die Politik das Problem regele.

Falsche Krücken

Dabei ist die rechtliche Lage klar: Als EU-Bürger haben Rumänen nur dann Anspruch auf Sozialleistungen, wenn sie nachweisen können, dass sie schon seit sechs Monaten hier leben und sich um Arbeit bemüht haben. Doch so lange wollen Nicu und die anderen gar nicht bleiben. Nicu sagt, sobald er genug verdient habe, gehe er wieder zurück. So halten es die anderen auch. Es herrscht ein Kommen und Gehen.

Ihre finanzielle Lage scheint gar nicht so desolat zu sein, wie sie behaupten. Mike Lederer kann sich ein Grinsen nicht verkneifen, wenn er sieht, wie ein Bewohner mit einer Krücke in Richtung Camp humpelt.

Lederer ist Geschäftsführer des benachbarten Getränkemarktes in der Heilbronner Straße. Ein hagerer Mann mit raspelkurzen Haaren, Berliner Schnauze und dem Herz am rechten Fleck. Er sagt, der humpelnde Mann stehe tagsüber vor jener Commerzbank-Filiale am Ku`damm, in der er abends seine Einnahmen einzahle. Der Mann halte Kunden die Tür auf. Die Krücke sei nur eine Masche, um Mitleid zu erregen. "Ich hab den auch schon gesehen, wie er ohne Krücke durch die Gegend gehüpft ist."

Die Rumänen aus dem Camp sind auch seine Stammkunden. "Freundliche Menschen", sagt er. Keine Langfinger. Sie tauschen bei ihm ihre Pfandflaschen ein. Er sagt: "Im Sommer kommt einiges an Leergut rein. Bis zu 120 Euro pro Nase kommen da am Tag zusammen."

Kein Wunder, dass sich die Nachbarn auf einen heißen Sommer einrichten. Nicu sagt, falls das Lager geräumt werde, schlafe er eben unter einer Brücke. Das Leben sei überall besser als zu Hause.

Quelle : welt.de

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