Vor dem Morgengrauen checkt der Direktor der Socrates-Grundschule in Culiacán auf seinem Handy diverse Chats, um herauszufinden, ob es irgendwo in der Umgebung Schießereien oder andere Vorfälle gegeben hat. Wenn Gefahr besteht, schickt er eine Botschaft an die Eltern seiner Schüler: Der Unterricht heute fällt aus.
Es ist nicht die einzige neue Routine in Culiacán, der Hauptstadt des mexikanischen Bundesstaates Sinaloa, die seit sechs Monaten zu einem Schlachtfeld für zwei Hauptgruppen des Sinaloa-Drogenkartells geworden ist. Die Gewalt ließ die Zeitspanne zum Begraben der Toten kürzer werden. Jeder plötzliche Lärm schreckt Kinder auf, lässt sie in Deckung gehen. Und jene, die an den sich häufig verändernden Frontlinien leben, fürchten täglich um ihr Leben.
Die Gewalt, mit der die Menschen in Culiacán - einer Stadt mit einer Million Einwohnern - konfrontiert sind, ist neu. Denn vorher sorgte die totale Dominanz des Kartells für Sicherheit. Aber das ist nun vorbei - und so sind jetzt viele Einwohner dankbar, dass US-Präsident Donald Trump Druck auf Mexiko ausübt, gegen die Kartelle vorzugehen. Und manche hegen die Hoffnung, dass die derzeitigen schwierigen Zeiten vielleicht die Komplizenschaft von Bürgern beenden, die über Jahre hinweg das Kartell als Beschützer und nachahmenswerte Helden betrachtet haben.
"Mayos" gegen "Chapos"
Es hatte im vergangenen September begonnen, nachdem Ismael "El Mayo" Zambada - der älteste und gerissenste Anführer des Sinaloa-Kartells - nach eigenen Angaben von einem der Söhne des früheren Kartellbosses Joaquin "El Chapo" Guzmán entführt und in die USA gebracht worden war, wo beide festgenommen wurden. Die Geschehnisse lösten einen Machtkampf zwischen beiden Gruppen - den "Mayos" und "Chapos" - aus, und die ungeschriebene Vereinbarung, keine nicht in den Drogenhandel involvierte Einwohner zu attackieren, wurde gebrochen.
Es kam zu Carjackings - Raubüberfällen auf Autos - und Entführungen, unschuldige Einwohner gerieten ins Kreuzfeuer und wurden an Straßensperren gestoppt, wo bewaffnete Männer ihre Handys auf Kontakte zur Gegenseite hin durchsuchten. Regierungsstatistiken zufolge hat es seit September mindestens 900 Morde gegeben. Und manchmal verschwinden Leute auch einfach, wie beispielsweise der 34-jährige Julio Héctor Carillo, der im Januar Verwandte besuchte und nie heimkehrte. "Noch nie zuvor in den vergangenen 30 bis 40 Jahren, seit wir Verbrechensstatistiken führen, haben wir so viele Familien mit verschwundenen Angehörigen gehabt", sagt Miguel Calderón vom Staatlichen Öffentlichen Sicherheitsrat, einer Bürgerorganisation.
"Wir sind es wirklich sehr, sehr leid, uns inmitten der Kugeln zu befinden", klagt der 38-jährige Chef eines Kleinunternehmens, der seinen Namen aus Sicherheitsgründen nicht genannt haben will - und es nicht mehr zulässt, dass sein 18-jähriger Sohn das Fahrrad benutzt. Die Eltern bringen ihn mit dem Auto überall hin. Ihre sieben Jahre alte Tochter fragt jeden Morgen: "Papa, kann ich heute zur Schule gehen? Hast du schon Facebook gecheckt?"
Zölle als Druckmittel im Fentanyl-Kampf
Aber was bewirken die USA, was können sie bewirken? Wie mexikanische Stellen an das Gewaltproblem herangehen, hat sich im vergangenen Monat merklich geändert, und Ortsansässige glauben, dass Trump der Grund dafür ist. Als die Eskalation begann, war in Mexiko noch Präsident Andrés Manuel López Obrador am Ruder, der die Gewalt herunterspielte und wenig Interesse daran bekundete, gegen die Kartellbosse vorzugehen. Sein enger Verbündeter Rubén Rocha, der Gouverneur des Staates Sinaloa, tat es ihm gleich. Die Dinge änderten sich, als Trump im November die Wahl gewann.
Zu seinen Wahlversprechen zählte es, illegale Einwanderungen zu stoppen und Drogenhändlern das Handwerk zu legen, und er drohte Mexiko mit dem Verhängen von 25-Prozent-Importzöllen, was er jetzt auch umsetzte. Mexikos neue Präsidentin Claudia Sheinbaum hatte sich schon zuvor bereit gezeigt, entschlossener gegen die Kartelle durchzugreifen, insbesondere mit der Sinaloa-Organisation, deren Hauptgeschäft der Fentanyl-Handel ist.
Die Zahl von Sicherheitsoperationen und Festnahmen im Bundesstaat hat sich vervielfacht, und alle entsprechenden Aktionen stehen jetzt unter Bundesaufsicht. Im Dezember beschlagnahmten Behörden in Sinaloa mehr als eine Tonne Fentanyl, während es im ersten Halbjahr 2024 in ganz Mexiko nur 286 Pfund waren. In den letzten zehn Februartagen wurden 113 Labore zur Herstellung synthetischer Drogen demontiert, wie aus vorläufigen Statistiken hervorgeht. In Culiacán entfernten Stellen mehr als 400 Überwachungskameras des Kartells.
"Dass Trump so viel Macht haben würde ..."
"Wir haben niemals zuvor einen so überwältigenden und täglichen Einsatz gegen die Kartelle erlebt", sagt Ismael Bojórquez, ein langjähriger Journalist in Sinaloa, der auf die Berichterstattung über organisiertes Verbrechen spezialisiert ist und das lasche Vorgehen von López Obrador kritisiert hatte. Er warnt zugleich, dass die Regierung nicht nachlassen dürfe, wenn sie die Kartelle wirklich dezimieren wolle.
Aber jeder Fortschritt zählt, insbesondere für die Menschen in Culiacán, die dankbar sind, dass die Aktionen beide Gruppen im Sinaloa-Kartell zumindest geschwächt haben. Er hätte niemals gedacht, dass Trump so viel Macht haben würde, das zu bewirken, sagt der Besitzer eines Bierladens beim Stopp an einem Polizeikontrollpunkt.
Eine 55-jährige Frau, die auf einer Bank sitzt und zusieht, wie ein kriminaltechnisches Team ein Mordopfer in einen Kleintransporter lädt, pflichtet bei. Am Tag davor hat sie an einem Gottesdienst für ihren Schwiegersohn teilgenommen, der vor fünf Monaten beim Spazierengehen mit seiner Tochter durch eine verirrte Kugel getötet worden war. Und so ist es hier, in dieser Stadt, sagt sie: "Wir gehen aus unserem Haus, aber wissen nicht, ob wir zurückkehren werden."
Quelle: ntv.de, María Verza, AP
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