Es ist ein kalter Freitag im März, als Robert Kvile ins russische Außenministerium in Moskau einbestellt wird. Der 67-Jährige ist seit Jahrzehnten einer der wichtigsten norwegischen Diplomaten, hat die Interessen Oslos in verschiedenen Ländern vertreten. Auf den letzten Metern seiner Diplomaten-Laufbahn verantwortet er eine besonders heikle Mission: Seit Herbst 2022 ist Kvile norwegischer Botschafter in Russland. Am 14. März dieses Jahres teilt ihm das russische Außenamt mit, dass Moskau in den Handlungen der norwegischen Regierung auf Spitzbergen eine Vertragsverletzung sieht.
Spitzbergen ist eine große Inselgruppe hoch im Norden - ungefähr auf halber Strecke zwischen Nordkap und Nordpol. Der Archipel ist etwa so groß wie Bayern. Von der Inselhauptstadt Longyearbyen bis zur norwegischen Küste sind es etwa 850 Kilometer. Der Nordpol ist nur etwa 1000 Kilometer von der schneebedeckten Inselgruppe entfernt.
Das Leben auf Spitzbergen ist hart und eisig. Nur 2500 Menschen leben auf der Inselgruppe, die bei den Norwegern Svalbard heißt. Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei minus sieben Grad. In den Wintermonaten sind minus 25 Grad nicht selten. In der langen Polarnacht zwischen Oktober und Februar ist es den ganzen Tag über dunkel.
Spitzbergen-Vertrag macht die Inselgruppe einzigartig
Nicht nur ihre abgelegene Lage und das beschwerliche Leben machen die Insel besonders - sondern auch ihr politischer Status: Spitzbergen gehört seit 100 Jahren zu Norwegen - allerdings dürfen sich hier auch andere Länder und ihre Bürger niederlassen. Zum Beispiel Russland. Das besagt der Spitzbergen-Vertrag, der 1925 in Kraft getreten ist. "Von diesem Nutzungsrecht hat zunächst nur Russland, damals noch in Form der Sowjetunion, für den Kohleabbau Gebrauch gemacht. Das lief erstaunlich friedlich ab. Norweger und Russen haben sich in Ruhe gelassen", berichtet Klaus-Peter Saalbach, Sicherheits- und Geopolitik-Experte von der Universität Osnabrück, im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".
Diese Ruhe wurde von der Einbestellung des norwegischen Botschafters gestört. Robert Kvile wird aber vermutlich nicht überrascht gewesen sein, dass er dem russischen Außenministerium Mitte März einen Besuch abstatten musste. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist das Verhältnis zwischen Oslo und Moskau angespannt. Norwegen ist Gründungsmitglied der Nato, Spitzbergen somit auch. Die Russen dürfen sich auf der Inselgruppe aufhalten, gleichwohl ist eine Militarisierung für Kriegszwecke ausdrücklich untersagt. So steht es im Spitzbergen-Vertrag.
Moskau wirft Oslo vor, gegen diesen Grundsatz zu verstoßen: Obwohl vertraglich allein die friedliche Nutzung des Archipels erlaubt sei, "gerät Spitzbergen in immer größerem Ausmaß in den Orbit der militärisch-politischen Planungen Norwegens unter Einbeziehung der USA und der Nato", hieß es in einer Mitteilung des russischen Außenministeriums. So seien auf Spitzbergen Objekte in Betrieb genommen worden, die neben zivilen auch militärische Aufgaben erfüllen könnten.
"Der Vertrag legt aber nur fest, dass keine militärischen Häfen oder militärischen Befestigungsanlagen errichtet werden dürfen und dass Spitzbergen nicht für Kriegszwecke verwendet werden darf", schränkt Experte Saalbach im Podcast ein. "Solange man sich an diese drei Kriterien hält, ist eine militärische Nutzung sehr wohl möglich."
Kein einziger Militärstützpunkt auf Spitzbergen
Derzeit ist die Lage jedenfalls eindeutig: Es gibt keine einzige Militärbasis auf der Inselgruppe. Der Spitzbergen-Vertrag verhindert das. Die norwegische Küstenwache kommt für Kontrollbesuche regelmäßig vorbei: Einmal im Jahr schickt Oslo eine Fregatte der Marine nach Spitzbergen, um die norwegische Souveränität symbolisch deutlich zu machen. "Die Norweger sagen ausdrücklich, dass sie Spitzbergen nicht militärisch nutzen, sondern die Region lediglich überwachen", ordnet Saalbach ein.
Die Russen sehen die Lage anders. "Versuche, die Arktis zu militarisieren, sind seit langer Zeit Teil der geopolitischen Agenda des Westens", behauptet Nikolai Patrushev, ein enger Berater von Präsident Wladimir Putin, in einem Interview mit einer russischen Online-Zeitung. "Dies ist in erster Linie auf den wachsenden globalen Wettbewerb um natürliche Ressourcen zurückzuführen." Die Arktis verfüge über einen Ressourcenreichtum, der "die Vorkommen in anderen Regionen der Welt verblassen lässt".
Eine Aussage, die kaum zum russischen Kohlebergbau auf Spitzbergen passt. Dieser war nie wirtschaftlich. Für Minenarbeiter wurden zwar einst mehrere Dörfer gebaut, aber schon vor Jahrzehnten wieder aufgegeben. Inzwischen sind sie zu Geisterorten verkommen.
Russischer Außenposten mit 350 Einwohnern
In Barentsburg leben dagegen noch etwa 350 Menschen. Der Ort ist gewissermaßen der Kreml-Außenposten auf Spitzbergen, nach Longyearbyen handelt es sich um die zweitgrößte Ortschaft der Inselgruppe. Barentsburg gehört dem russischen Staatskonzern Trust Arktikugol, der hier noch immer ein Steinkohlebergwerk betreibt. Auch das ist unwirtschaftlich.
Unter Tage arbeiten wenige Dutzend Bergarbeiter, einige von ihnen sind Ukrainer. Auf Spitzbergen leben und arbeiten die Bürger des angegriffenen Landes also mit Russen zusammen. Der tausende Kilometer entfernte Krieg ist bei Gesprächen zwischen den Kumpeln tabu, berichtete das Magazin des deutschen Reservistenverbands vor zwei Jahren.
Der Spitzbergen-Vertrag garantiert Moskau Anspruch auf den kleinen, lebensfeindlichen Ort, solange zumindest eine Tonne Kohle im Jahr gefördert wird. Tatsächlich sind es etwas mehr als 100.000 Tonnen, die Russen und Ukrainer in Diensten des Moskauer Staatskonzerns jedes Jahr aus der Grube holen. Aber auch das ist verglichen mit dem immensen Aufwand in der lebens- und arbeitsfeindlichen Region ein grotesk niedriger Wert.
Es hat geopolitische Gründe, dass Moskau ein hochdefizitäres Bergwerk am Laufen hält. "Die Sowjetunion hat den Kohlebergbau vor allem aus strategischen Gründen aufrechterhalten", sagt Experte Saalbach im Podcast. "Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben viele Russen Spitzbergen von sich aus verlassen, weil das junge Russland nicht in der Lage war, weiter die Infrastruktur bereitzustellen und die hohen Kosten zu tragen."
Barentsburg ist eine Art russisches Kleinod hoch im Norden. Es gibt ein paar Plattenbauten im Sowjetstil, einen Dorfladen, eine große Lenin-Statue und das Bergwerk, außerdem existiert ein Hotel für die wenigen Touristen. "Inzwischen bemüht sich Russland wieder um einen Ausbau seiner Präsenz in Barentsburg sowie in der kleinen Siedlung Pyramiden", berichtet Saalbach.
In dem etwa zwei Schiffsstunden von Longyearbyen entfernten Pyramiden hat Russland bis 1998 ebenfalls Kohlebergbau betrieben. Dann verfiel der Ort zunehmend. Kurz bevor Russlands Nutzungsrecht für die Siedlung ausgelaufen wäre, ließ Moskau das verlassene Hotel im Ort wieder für Touristen öffnen. Inzwischen kommen Urlauber, die auf den morbiden Charme von Geisterstädten abfahren.
Eiszeit zwischen Norwegen und Russland
Bis zum Einmarsch Moskaus in die Ukraine lebten Norweger und Russen auf Spitzbergen friedlich zusammen. Bei Urlaubern waren Schneemobiltouren von der Inselhauptstadt zum russischen Außenposten beliebt. Diese Fahrten bewirbt die lokale Tourismusbehörde inzwischen nicht mehr. Seit dem 24. Februar 2022 wurden fast alle Kontakte abgebrochen. Die norwegische Tourismusbehörde in Longyearbyen hat keinen Draht mehr zum Moskauer Außenposten, warnt Spitzbergen-Besucher sogar vor Aufenthalten in Barentsburg, berichtet das Handelsblatt.
Zwischen Oslo und Moskau herrscht im wahrsten Sinne des Wortes Eiszeit. Norwegen ignoriert die Russen, die wiederum provozieren: In Pyramiden wurde die Flagge der von Russland illegal annektierten sogenannten Volksrepublik Donezk gehisst, meldet der Tagesspiegel. Vor zwei Jahren ließ Russland in Barentsburg eine Militärparade in Gedenken an den Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland abhalten. Trotz Flugverbots war ein Militärhubschrauber in der Luft, während auf dem Boden eine Kolonne von Jeeps und Motorschlitten mit Russland-Flaggen durch den kleinen Ort fuhr.
Manch ein Arktis-Experte fürchtet, aus den Provokationen könnte eines Tages bitterer Ernst werden. Russland könnte hier hoch im Norden die Nato und ihren Beistandsartikel Fünf testen. Das Reservisten-Magazin der Bundeswehr nannte Spitzbergen deshalb schon vor zwei Jahren "die Achillesferse des Westens".
Quelle: ntv.de
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