Der New Yorker schrieb kürzlich, dass das Coachella zwar immer noch ein Ort sei, an dem es zumindest nebenbei um Livemusik gehe. Dass es aber auch ein Ort sei, "an dem man die ritualisierte Parade wunderschöner Menschen beobachten kann, die für ein paar Tage ihren inneren Bohemien freilassen. Aus der Distanz sieht es weniger aus wie ein Hafen der Freigeistigkeit, sondern eher wie ein Catwalk für Menschen, die entschieden haben, dass Freigeistigkeit ihnen gut steht".
Damit muss sich die Coachella-Gemeinde von der werktätigen Bevölkerung ziemlich genau dieselben Vorwürfe anhören wie die jungen, gut aussehenden Menschen, die gerade Nacht für Nacht auf der Pariser Place de la République ein Festival namens Nuit debout veranstalten: Dass sie erstens privilegiert seien, dass sie zweitens die Gegenkultur behandelten, als sei es die neue Kollektion von Raf Simons, und dass sie drittens nur aus genau einem einzigen Grund keine politischen Forderungen aufstellten: weil es ihnen genau genommen an gar nichts fehlt.
Aber Paris ist immer noch Paris, weshalb hier sogar die sozialen Ausschlussmechanismen ausgefeilter sind als anderswo: In Frankreich ist es nicht das Eintrittsgeld, das zur Teilnahme am beliebtesten Gegenkulturfestival des Landes berechtigt, sondern ein universalistisches Selbstverständnis. Und das bekommt man in Frankreich vor allem an den besseren Universitäten und damit letztlich doch wieder gegen Geld.
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In einem Beitrag für die Tageszeitung Le Monde hat der französische Philosoph Geoffroy de Lagasnerie bemerkt, dass der entscheidende Irrtum der Nuit-debout-Bewegung darin bestehe, den neoliberalen Individualismus für den Niedergang Frankreichs verantwortlich zu machen und deshalb die Losung auszugeben, "das Volk" müsse jetzt zusammenstehen und sich zu einer neuen Gemeinschaft zusammenfinden.
Dabei gebe es zahllose Menschen in Frankreich, die sich nichts mehr wünschten, als möglichst bald aus ihrer Gemeinschaft herauszutreten und zum liberalisierten Arbeitsmarkt der digitalen Pariser Boheme überhaupt erst gern einmal Zugang zu bekommen. Zu nennen wären an dieser Stelle etwa die Araber, die Westafrikaner, die Landwirte oder die arbeitslosen Industriearbeiter, die allesamt zwar gern die Probleme der jungen Pariser Universitätsabsolventen hätten, von deren pathetischem Gemeinschaftssingsang ansonsten aber gern in Ruhe gelassen werden wollen.
Ein Selbstgespräch der neuen Elite?
"Weil sich Nuit debout um die Rhetorik des Volkes und des Gemeinsamen herum organisiert, zieht die Bewegung automatisch jene an, die ihre Partikularinteressen für universell halten und schließt die Beherrschten aus", schreibt de Lagasnerie. Ähnlich wie das Coachella-Festival ist auch die Nuit-debout-Bewegung von den billigeren Vororten aus betrachtet vor allem ein undurchschaubares Selbstgespräch jener Eliten, die einen auch sonst schon nicht mitmachen lassen.
Was, anders betrachtet, aber auch gar nicht unbedingt ein Problem sein muss: Der britische Journalist Paul Mason schreibt in seinem Buch Postkapitalismus, dass es gerade diese jungen, urbanen, rührseligen Menschen sein könnten, die den globalen Kapitalismus in seiner jetzigen Form zu Grabe tragen. Am vergangenen 1. Mai musste die Polizei die Demonstration von Nuit debout auflösen. Es war zu Ausschreitungen gekommen.
Anders als die französische Linke setzt Mason seine Hoffnungen nicht mehr auf das Proletariat, sondern auf einen völlig neuen Menschen: die vernetzte, gebildete, universelle Person, eine Verschmelzung von einem Manager und einem Intellektuellen. Und das ist im Grunde genau die demografische Gruppe, die dieser Tage auf der Place de la République anzutreffen ist.
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