Darum postet Ihr Kind jetzt alles auf Snapchat

  12 Mai 2016    Gelesen: 482
Darum postet Ihr Kind jetzt alles auf Snapchat
Nur für Sekunden sind die Bilder zu sehen, die Jugendliche auf Snapchat hochladen. Nach einem Tag werden sie wieder gelöscht. Viele Erwachsene rätseln, was die Kids daran so toll finden.
Das Mädchen hält sein Smartphone hoch und schießt ein Foto. Auf dem Bild trägt die Frau, die es fotografiert, wie von Zauberhand einen Blumenkranz. Ob sie das Foto mit ihren Freunden teilen darf, will die 13-Jährige wissen. Ihre Nachhilfelehrerin ist unsicher. Wo das denn dann erscheine? Na, in der App. Eigentlich auch egal, meint das Mädchen. Schließlich sähen die Freunde es nur wenige Sekunden. Und dann werde es auch bald wieder gelöscht.

Mehr als 130 Millionen Menschen erstellen und posten jeden Tag Fotos in der App Snapchat. Vor allem für Jugendliche gehören Snaps – so werden die Fotos und kurzen Videosequenzen genannt – längst zum Alltag. Laut einer Umfrage des Magazins "Bravo" hat die App bei jungen Nutzern inzwischen Facebook hinter sich gelassen.

Für 35 Prozent der Befragten zwischen zehn und 19 Jahren zählt Snapchat zu den drei meistgenutzten Social-Media-Apps, Facebook landete nur noch auf Rang fünf. Zum Vergleich: Im Vorjahr lag Snapchat noch bei 17 und Facebook bei 40 Prozent. An der Spitze liegt aktuell WhatsApp (91 Prozent) vor YouTube (56 Prozent) und Instagram (52 Prozent).

Die mit der App erstellten Snaps teilen die Nutzer entweder öffentlich innerhalb ihres Netzwerks, oder sie versenden sie in privaten Chats. Nur für wenige Sekunden blitzt das Bild dann bei ihrem Gegenüber auf. Die Snaps zeigen die Jugendlichen beim Eisessen nach der Schule oder beim Lernen für eine Mathearbeit. Nicht die besonderen, sondern die alltäglichen Situationen stehen im Mittelpunkt.

Und so vergänglich wie der Moment an sich sind auch die Fotos und Videos, die sie festhalten. Damit die Smartphones nicht mit Tausenden Fotos und Videos zugemüllt werden, löschen sich die Snaps nach einem Tag von selbst wieder.

Der Reiz des Vergänglichen

Für viele Erwachsene bleibt das Phänomen deshalb rätselhaft. Auch der 67-jährigen Nachhilfelehrerin des Mädchens erschloss sich nicht so richtig, weshalb man Fotos macht, teilt und dann gleich wieder löscht. Dabei hat sie selbst ein Smartphone und einen Facebook-Account.

Der Blogger Sascha Lobo, Jahrgang 1975, verkündete vergangene Woche auf der Internetkonferenz re:publica, die digitale Avantgarde erkenne man daran, dass "wir noch viel früher als alle anderen Snapchat nicht verstanden haben".

Der Wunsch, den Hype zu begreifen, ist aber offensichtlich stark. Zur Veranstaltung "Snapchat für Erwachsene", bei der der Schüler Joshua Arntzen die App erklärte, strömten rund 500 Besucher. "Du kannst die verrücktesten Dinge in deinen Snaps machen, und keinen interessiert es", erklärte der 14-Jährige. Die Bilder lassen sich mit Filtern verändern, verzerren und mit Stickern versehen. Man kann sogar Gesichter miteinander vertauschen.

Es scheint also gerade die Kurzlebigkeit zu sein, die den Reiz von Snapchat ausmacht. "Snapchat wird typischerweise für die spontane Kommunikation mit engen Freunden verwendet", erklärt Joseph Bayer. Der US-Forscher von der Universität Michigan hat gemeinsam mit Kollegen 2015 untersucht, wie Jugendliche auf Snapchat reagieren. Die Forscher schickten 154 College-Studenten sechs Mal täglich kurze Fragen dazu, wie sie sich fühlten, wo sie mit anderen interagierten und wie sich diese Interaktionen anfühlten.

Etwas auf Snapchat zu posten und darüber dann mit anderen zu chatten rief in der Untersuchung mehr positive Emotionen hervor als die Kommunikation über andere soziale Medien.

Die Forscher gehen davon aus, dass es vor allem daran liegt, dass sich die Nutzer weniger Gedanken um ihre Selbstpräsentation machen müssen – etwa ob sie auf einem Foto hässlich wirkten. "Facebook ist zu dem Ort geworden, an dem die Menschen große Ereignisse teilen: die Geburt eines Babys etwa. Snapchat scheint nun der Ort zu sein, an dem sie Kleinigkeiten loswerden können", vermutet Bayer.

Außerdem gaben die Probanden an, dass sie einer kurzlebigen Snapchat-Nachricht mehr Aufmerksamkeit schenken, gerade weil sie so vergänglich ist.

Leben und dabei kommunizieren

Statt Erlebtes später online wiederzugeben, passiere einfach beides zur gleichen Zeit: Leben und kommunizieren – so erklärte es Snapchat-Gründer Evan Spiegel 2014 auf einer Konferenz.

Der heute 25-Jährige rief Snapchat 2011 gemeinsam mit Robert Murphy in Los Angeles ins Leben. Weil die "Lebenszeit" der Bilder so kurz ist, nutzten Teenager die Anwendung in den USA zunächst, um Nacktfotos zu versenden. Das brachte dem Portal schnell den Ruf einer "Sexting"-App ein. Mittlerweile ist es nicht mehr ganz so schnelllebig wie vor fünf Jahren. Aus mehreren Snaps entsteht im Laufe des Tages eine sogenannte Story. Und die kann man auch herunterladen und speichern.

Weil es schon nach kurzer Zeit eine beachtliche Menge Nutzer gesammelt hatte, geriet das Unternehmen schon 2013 ins Visier von Mark Zuckerberg. Der Facebook-Gründer wollte Snapchat kaufen, für stattliche drei Milliarden Dollar. Doch das Start-up lehnte ab.

Vor allem im für Facebook strategisch wichtigen Videosegment läuft Snapchat dem großen Bruder den Rang ab. Snapchat-Nutzer schauen sich "Techinsider" zufolge täglich zehn Milliarden Videos an. Bei Facebook, das derzeit 1,6 Milliarden Nutzer hat, waren es im November 2015 nur acht Milliarden.

Wenn die Omas auch auf Snapchat sind

Und längst sind die Jugendlichen auf Snapchat nicht mehr unter sich. Unternehmen wie Zalando oder Starbucks, aber auch Medienhäuser wie CNN oder Vox haben erkannt, dass man über das Portal die Jugend erreicht. Auch Politiker nutzen die App: Das Wahlkampfteam von Hillary Clinton punktete kürzlich mit einer Snapchat-Story über Donald Trump.

Erste Analyse-Tools wie Snaplytics helfen beim Optimieren von Marketing-Aktivitäten. Und Evan Spiegel plant als Nächstes den Börsengang des Unternehmens.

Als Nächstes, glaubt Snapchat-User Joshua Arntzen, wechseln Erwachsene von Twitter oder Instagram in den Snapchat-Kosmos. Dann steige die Jugend aber um, meint der Schüler, auf die nächste App. Wenn ihre Nachhilfelehrerin Snaps postet, will das Mädchen vermutlich auch nicht mehr im selben Netzwerk unterwegs sein. Die Jugend geht, sagt Arntzen, "wenn die ganzen Opas und Omas auf Snapchat sind".

Quelle : welt.de

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