Aus der nahezu abstrakten Hypothese des nuklearen Schlagabtauschs im Kalten Krieg und der düsteren Logik der beiderseitigen Eskalation wird Schritt für Schritt in einer teuflischen Logik das Szenario der Selbstvernichtung der irdischen Zivilisation. William J. Perry, US-Verteidigungsminister unter Clinton und einer der Protagonisten für "Global Zero", warnt, die neuen, kleineren und hochpräzisen Waffen, die die Obama-Administration plant, würden das Undenkbare nur denkbarer machen.
Perry: "Man macht sie leichter einsetzbar, auch wenn es keinerlei glaubwürdiges Konzept gibt, die Eskalation zu beherrschen." Was für den amerikanischen militärisch-industriellen Komplex gilt, gilt mit Abstufungen auch für Russland und die Volksrepublik China.
Es regiert ein zweifaches Paradox, das die Welt bedroht und das die bewährte Nato-Formel von 1967 im Harmel-Bericht, Abschreckung und Entspannung, noch einmal zum obersten Ziel machen muss. Über vier Jahrzehnte des nuklearen Patts – Friede unmöglich, Krieg unwahrscheinlich – wirkten die Waffen des Weltuntergangs, einigermaßen im groben Gleichgewicht tariert, praktisch und theoretisch als Verbot des großen Krieges und zügelten auch mitunter Stellvertreterkriege.
Lange vor dem letzten nuklearen Duell erzwang die Lage schon unbedingte Vermeidung jeder direkten Konfrontation. Es gab zwischen den atomaren Supermächten so etwas wie ein Kartell der Friedensbewahrung und der Konfliktvermeidung. Damit ist es weitgehend vorbei. Vom Finnischen Meerbusen bis zum Schwarzen Meer inszenieren Amerikaner und Russen Konfrontationen am Rande des Ernstfalls, die im Kalten Krieg alle Warnsignale hätten glühen lassen – jetzt aber nicht mehr, und das wird lebensgefährlich.
Unerbittliche Lektionen
Die Philosophie, gemeinsam zu überleben oder gemeinsam unterzugehen, hat an Geltung und Wirkungsmacht verloren. Die unerbittlichen Lektionen aus den Weltkrisen um Berlin und Kuba vor einem halben Jahrhundert – Gleichgewicht, Gesichtswahrung und vertrauensbildende Rituale – sind einer neuen Generation militärischer und politischer Führung weitgehend verloren. Es ist in der Tat erschreckend, zu hören und zu lesen, wie Militärs und Spitzenpolitiker die Waffen des Weltuntergangs herunterreden, als gehe es um Artillerie besonderer Art.
Der heutige Spannungszustand zwischen Russland und dem Westen, wo die Gefahren weit größer sind, als alle akuten Streitfragen es wert sind, von der Halbinsel Krim und der Ostukraine bis zu den westlichen Sanktionen und den russischen Gegensanktionen, enthält vielerlei Möglichkeiten zu Missverständnissen und taktischen Manövern, die furchtbar eskalieren können, bis niemand mehr die Kontrolle hat.
Gegenwärtig erschrecken die rasiermesserscharfen Überflüge russischer Bomber über amerikanischen Zerstörern in internationalen Gewässern der Ostsee, bei dem die Zuschauer den Atem anhalten. Es fehlt allenthalben der Mut zu Aufräumungsarbeiten. Die amerikanische Raketenabwehr in Rumänien, die die Russen alarmiert, ist mit den Zusicherungen der Nato-Osterweiterung von 1997 schwerlich in Einklang zu bringen.
Dazu aber kommen neue nukleare und hightech-konventionelle Technologien. Sie bringen die Versuchung zurück, Auswege aus dem doppelten Patt der Rüstung und der Politik in Gefechtsköpfen begrenzten Formats zu suchen. So geschieht es gegenwärtig in den Generalstäben, ohne dass die Politik dem Irrwitz Einhalt gebietet und alles daransetzt, zu dem friedensbewahrenden Modus der nuklearen und konventionellen Rüstungskontrolle und des bis ins militärische Detail regulierten Gleichgewichts der 80er-Jahre zurückzukehren.
Feindliches Schweigen
Es herrschen feindliches Schweigen und die Angst, dem potenziellen Gegner sei alles, auch das Schlimmste, zuzutrauen. Die wechselnden Szenarien des Hybridkriegs vermeiden zwar – das ist ihr politischer Sinn –, der Schwelle zum Nuklearen nahe zu kommen. Aber wenn Nuklearkrieg in den modernen Kriegsszenarien wieder praktikabel wird und Eingang findet in die wechselseitig einander hochschaukelnden Militärdoktrinen, wird es gefährlich – gefährlicher in der Tat als in Theorie und Praxis des Kalten Krieges.
Die russische Militärdoktrin enthält den Gedanken, der auch westlichen Strategen nicht gänzlich fremd ist, der Ersteinsatz von Nuklearwaffen könne deeskalierend wirken: Was auch immer in der Theorie davon zu halten ist, die Hemmschwelle wird jedenfalls herabgesetzt in der Hoffnung auf frühes Einknicken der Gegenseite. Das ist unverantwortliches Spiel mit dem nuklearen Feuer. Wo auch immer die Anfänge zu finden sind, die Dynamik der Rüstung wird, wenn ungebremst, neue Eskalation erzeugen, nicht in Richtung Masse, sondern in Richtung Klasse.
Die Megatonnen Zerstörungspotenzial, deren Dynamik in den 70er-Jahren ihren Höhepunkt erreichte und dazu führte, dass auf jede Drehung der nuklearen Rüstungsspirale eine weitere Drehung folgte in irrwitzigem Wettlauf Richtung Overkill-Kapazität, war, militärisch gesprochen, ein Widerspruch in sich. Denn es galt, gleichermaßen für beide Seiten, das Paradox, dass, je größer das Vernichtungspotenzial, desto weniger Anwendbarkeit im Fall der offenen Konfrontation.
Diese Einsicht hatte eine außerordentlich ernüchternde Wirkung auf Militärs und Politiker, wie tief auch immer die Gegensätze in Worten, Werken und Werten waren, und hat noch entscheidend dazu beigetragen, dass der Umbruch der Welt vor zwei Jahrzehnten und der Niedergang der Sowjetunion halbwegs friedlich abgingen, und jedenfalls ohne großen Krieg. Das Budapester Protokoll, das 1994 zwischen Moskau, Washington und London zur Preisgabe der in der Ukraine verbliebenen Nuklearwaffenarsenale der Ukraine territorialen Bestandschutz versprach, tut das offensichtlich nicht mehr. Auf wechselseitig gesicherte Zerstörung – auf Englisch zutreffen mit MAD abgekürzt – ist kein Verlass mehr.
Die Drohungen entwickeln ihre eigene unheimliche Dynamik. Die Deregulierung der Weltpolitik findet ihren Ausdruck in Hybrid-Kriegen und in der Denkbarkeit des nuklearen Ernstfalls ohne Ziel und ohne Grenze. "Global Zero" bleibt ein menschenfreundlicher Gedanke. Aber gegenwärtig treiben die Weltmächte in die Gegenrichtung.
Quelle : welt.de
Tags: