Ziemlich viel Zufall

  03 Juni 2016    Gelesen: 689
Ziemlich viel Zufall
Ein Mord in Dessau, und die Polizei gerät in Erklärungsnot – über ihre eigene Rolle.
Das Besondere an Zufällen ist, dass man immer weniger an sie glaubt, je mehr es von ihnen gibt. In Dessau wurde eine chinesische Studentin ermordet, und die eigentümlichen Zufälle, die sich um diesen Fall ranken, sind inzwischen so zahlreich, so bizarr, dass in den Medien von einem Polizeiskandal die Rede ist.

Die junge Chinesin Yangjie Li, zum Architekturstudium nach Dessau gekommen, wurde am Abend des 11. Mai 2016 letztmals lebend gesehen. Zwei Tage später, am Vormittag des 13. Mai 2016, fand man ihre Leiche. Seit dem 24. Mai 2016 gibt es zwei Tatverdächtige, einen 20-jährigen Dessauer und seine gleichaltrige Verlobte. Sie sitzen in Untersuchungshaft.

Zuerst könnte man meinen: ein grausamer, schrecklicher Mord in einer kleinen deutschen Stadt – einer, wie er leider viel zu häufig vorkommt; bei dessen Aufklärung aber auf die Polizei Verlass ist.

Dann hört man vom ersten Zufall. Und fängt an zu zweifeln.

Der mutmaßliche Haupttäter nämlich, Sebastian F., entstammt einer Polizistenfamilie. Seine Mutter ist Polizistin, sein Stiefvater Jörg S. gar Chef des Dessauer Polizeireviers. Seit einigen Tagen steht der Verdacht im Raum, dass die Eltern ihm, F., beim Verwischen von Spuren geholfen haben könnten. Sie weisen das weit von sich. Aber es sind ziemlich viele Zufälle, die sie erklären müssen.

Am 25. Mai 2016, am Tag nach der Verhaftung der beiden Verdächtigen, wird die Sache zum Fall für Sachsen-Anhalts Innenminister. Holger Stahlknecht (CDU) will eigentlich auf eine Landpartie fahren. In Braunschwende, Kreis Mansfeld-Südharz, soll er auf einem Fest des MDR auftreten. Da erreicht ihn die Nachricht, dass es Ungereimtheiten bei Ermittlungen geben könnte. Stahlknecht, schon auf dem Sprung, zieht das Sakko wieder aus. Er berät mit seinen Leuten, was zu tun ist. Die Landpartie sagt er ab.

Was auch die Medien in diesen Tagen schon beschäftigt: Bis vor Kurzem hat das verhaftete Paar in einem Haus unweit des Tatorts gelebt. Warum sind bis zur Festnahme trotzdem elf Tage vergangen? Möglicherweise weil die Ermittler zwar unter Gullydeckeln nach Spuren gesucht und sogar die Dixi-Toilette beschlagnahmt haben, neben der die Leiche gefunden wurde. Darauf, die Häuser zu überprüfen, in deren direkter Nähe man die tote Studentin fand, wurde jedoch offenbar weitgehend verzichtet. "In diesem Punkt war das dilettantische Ermittlungsarbeit", sagt ein leitender Justizbeamter.

Inzwischen gehen die Beamten davon aus, dass die Leiche aus dem Fenster eines leer stehenden Hinterhauses geworfen wurde. Dieses Hinterhaus wiederum gehört zu jenem Gebäude, in dem das Pärchen bis vor wenigen Tagen – und noch zum Tatzeitpunkt – seine Wohnung hatte. Die Reihe der Zufälle beginnt hier erst richtig. So ist die Polizistin Ramona S., Mutter des Tatverdächtigen, vor der Festnahme ihres Sohnes an den Ermittlungen in dem Fall beteiligt, führt angeblich Befragungen durch, so unter Kommilitonen des Opfers. Das alles, bevor ihr Sohn zu den Verdächtigten gehört.

Jedoch erfährt sie früher als ihre Kollegen, dass ihr Sohn möglicherweise etwas mit dem Fall zu tun haben könnte. Nachdem in den Medien berichtet wird, dass fremde DNA-Spuren an der Leiche von Yangjie Li gefunden worden seien, sollen sich Sohn und Freundin an Ramona S. gewandt haben: Die Spuren könnten von ihm, dem Sohn, Sebastian F., stammen. Man habe sich am Abend vor dem Verschwinden von Yangjie Li mit einer Chinesin zum Sex getroffen, sie habe das Haus danach wieder verlassen. Nach eigener Aussage drängt Ramona S. ihren Sohn, die Version auch der Polizei vorzutragen. Das tut er am nächsten Tag. Die Erklärung von Sebastian F. und dessen Freundin erscheint den Beamten so obskur, dass das Paar verhaftet wird. Allerdings hindert das den Oberstaatsanwalt Folker Bittmann nicht, die Version des Paares auch auf einer Pressekonferenz am 24. Mai, bei der über die Festnahme der beiden 20-Jährigen informiert wird, in aller Ausführlichkeit auszuplaudern.

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