Nach Hirnerkrankung: Italiener spricht plötzlich Französisch

  03 Juni 2016    Gelesen: 578
Nach Hirnerkrankung: Italiener spricht plötzlich Französisch
Frankreich hat ihn nie besonders interessiert. Doch nach einer Erkrankung im Hirn spricht ein 50-jähriger Italiener plötzlich nur noch Französisch. Auch sein Verhalten hat sich drastisch verändert.
Das letzte Mal, dass er Französisch gesprochen hatte, war 30 Jahre her. Damals, in seinen Zwanzigern hatte der Italiener eine kurze Liaison mit einer Französin, die dem Vokabelpauken in der Schule einen Sinn gab. Dann allerdings gerieten seine Sprachkenntnisse in Vergessenheit - bis er im Alter von 50 von einem Tag auf den anderen anfing, ausschließlich Französisch zu sprechen. Rudimentär, so wie er es gelernt hatte.

Zu diesem Zeitpunkt war der Italiener bereits schwer am Gehirn erkrankt, wie Forscher um Nicoletta Beschin vom Somma Lombardo Hospital in Italien in der Fachzeitschrift "Cortex" berichten. Ein wichtiges Blutgefäß hatte sich im Hirnstamm des Mannes erweitert und das daumengroße Areal, das verschiedene Teile des Gehirns miteinander verbindet, beschädigt. Auch kann die Flüssigkeit im Hirn nicht mehr richtig zirkulieren.
Der Italiener erhält bei einer Operation einen sogenannten Shunt, der überschüssige Flüssigkeit ableitet. Trotzdem können sich die Mediziner nicht erklären, warum sich der Italiener auf einmal seltsam verhält.

Perfektes Italienisch

Der Mann beginnt, französisch mit seinen Verwandten zu sprechen. Mit anderen Patienten im Krankenhaus. Und schließlich auch mit dem verdatterten Komitee, das über seine Pensionierung entscheiden sollte. "Er spricht Französisch mit jedem, der ihm zuhört", schreiben die Forscher. "Und er zeigt keine Irritation, wenn Menschen ihn nicht verstehen."

Zwar kommen weder Fantasiefranzösisch noch ein Kauderwelsch über seine Lippen. Allerdings offenbaren sich immer wieder Lücken in seinem Wortschatz, statt "Spargel" sagte er "Gemüse". Auch die Grammatik lässt häufig zu wünschen übrig. Dies kompensiert der Mann auf seine eigene Art und Weise: Er nutzt nicht nur die fremden Wörter, er versucht auch den Sprachfluss nachzuahmen - und übertreibt dabei völlig.

"Er verhält sich wie die typische Karikatur eines französischen Mannes", dokumentieren die Forscher. Dabei zeigen Tests, dass der Mann eigentlich noch perfektes, akzentfreies Italienisch beherrscht. Das unterscheidet ihn grundlegend von anderen, ähnlichen Betroffenen.

Thüringerin spricht Schweizer Dialekt

"Es sind bereits seit Jahrzehnten Fälle bekannt, bei denen Leute aus unerklärlichen Gründen ihre eigene Sprache mit einem fremden Akzent sprechen oder anfangen, eine andere Sprache zu sprechen", sagt Grzegorz Dogil von der Universität Stuttgart, der sich mit "Sprache und Gehirn" beschäftigt.

2013 etwa wurde der Fall einer Thüringerin bekannt, die nach einem Schlaganfall plötzlich einen Schweizer Dialekt sprach. 2015 der einer Chinesin, die sich nur noch auf Englisch ausdrücken konnte. "Daneben gibt es auch Fälle von Menschen, die bilingual aufgewachsen sind und plötzlich nur noch eine der beiden Sprachen beherrschen", sagt Dogil.

Wie es im Detail zu dem Phänomen kommt, weiß noch niemand. Grob, so Dogil, lasse sich die Störung mit Modulen erklären: Die verschiedenen erlernten Sprachkenntnisse sitzen in einzelnen Modulen. Werden die Verbindungen zu einigen der Module blockiert, knüpft das Hirn neue, schnellere Verbindungen zu anderen Modulen. Dabei kann es nur auf vorhandene Kenntnisse zurückgreifen. Dass ein Mensch plötzliche eine Sprache spricht, die er zuvor nie beherrscht hat, ist wissenschaftlich ausgeschlossen.

Französisches Verhalten

Neben seiner perfekten Muttersprache macht den Italiener noch etwas anderes Besonders: Der 50-Jährige, der sich zuvor nie besonders für französisches Essen und die französische Kultur interessiert hat, will plötzlich französische Filme, Bücher und Magazine sehen und lesen. Er kauft französisches Essen. Und verfällt immer wieder aus dem Nichts in eine Euphorie, die er "Joie de vivre" tauft.

Zum Start in den Tag reißt der Mann, den seine Kollegen als aufrichtig und gewissenhaft beschrieben haben, das Fenster auf, ruft "Bonjour" und verkündet, wie wunderbar der Tag doch ist. Er bietet Französischkurse in der Nachbarschaft an. Und schlägt den Teenagerfreunden seiner Tochter vor, für sie eine Gesangsreise zu organisieren. Zum Leidwesen seiner Frau backt der Italiener täglich Unmengen Brot. Und bringt statt zwei Haken beim Einkaufen aus dem Baumarkt 70 mit. Die Mediziner dokumentieren Größenwahn und andere zwanghafte Angewohnheiten.

Die Durchblutungsstörungen in seinem Gehirn haben wahrscheinlich zu einer Manie geführt, erklären sich die Forscher das Verhalten. Einer psychischen Störung, bei der Hemmungen verloren gehen, das Selbstbewusstsein steigen und viele Ideen aufkommen können. Möglicherweise, so schreiben die Forscher weiter, sei auch der Zwang zum Französischsprechen ein Teil dieser Manie. Klar ist jedenfalls, dass es sich nicht um eine kurze Phase handelt.

Seit vier Jahren redet der Familienvater mittlerweile Französisch. Versuche, ihn zu seiner Muttersprache zu motivieren, habe seine Familie mittlerweile aufgegeben, schreiben die Mediziner. Nur eins ist über die Zeit schwächer geworden: das Übertriebene, Karikaturistische. Der Italiener nähert sich mit seiner Sprache immer mehr an einen echten Franzosen an.

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