Raser-Unfälle: Das Auto als Waffe

  07 Juni 2016    Gelesen: 443
Raser-Unfälle: Das Auto als Waffe
Raser verursachen immer wieder tödliche Unfälle. Vor Gericht werden die Fahrer meist milde bestraft. Aber was ist angemessen? Ein Erklärungsversuch.
Als Mario N. am 19. März seine Wohnung verlässt, um einen Arzt aufzusuchen, wird er nie wieder nach Hause zurückkehren. Es ist ein regnerischer Tag in Berlin, die Temperaturen liegen im milden zweistelligen Bereich. N., 53 Jahre alt, eine Tochter, wird wenige Stunden später aus dem Leben gerissen werden.

N. wird Opfer eines Autofahrers werden, der wie ein Irrer durch die Stadt raste. So schildern es Zeugen zwei Jahre nach dem Unfall vor Gericht. Als N. kurz vor 15 Uhr die vielbefahrene Kantstraße in Charlottenburg überqueren will, wird er von einem schwarzen Mercedes E500 erfasst. Die E-Klasse zog rechts heraus, als ein Auto vor ihm bremste, beschleunigte und katapultierte N. zunächst gegen die Windschutzscheibe.
Anschließend wurde N. meterhoch durch die Luft geschleudert, bevor er auf dem Asphalt landete - der Kopf auf dem Bürgersteig, der Körper auf der Straße. "Der sah aus wie eine Menschenpuppe", erzählt einer von mehreren Augenzeugen vor Gericht, noch immer sichtlich mitgenommen. Der Mercedes-Fahrer, der 1988 geborene Alfred B., flüchtete und stellte sich erst Stunden später der Polizei im Beisein eines Anwalts. N. starb noch an der Unfallstelle.

Autorennen kosten immer wieder Menschenleben

Zwei Jahre nach seiner Todesfahrt sitzt der Angeklagte B. nun im Amtsgericht Tiergarten in Berlin auf der Anklagebank. Beim Prozessauftakt Anfang Mai, ein schwüler Tag, stehen die Fenster offen. B. trägt Jeans und ein kariertes Hemd. Hinter seinem Rücken weinen die Angehörigen des Opfers, schnäuzen in Taschentücher und ringen nach Fassung. Die Tochter von N. hat es nicht in den Gerichtssaal geschafft, zu groß sei nach wie vor der Schmerz, sagt die Mutter, die unter den Zuhörern sitzt.

Die Todesfahrt von Alfred B. gehört zu einer Reihe von Raser-Unfällen, die sich in den vergangenen Jahren ereigneten: Erst im Mai wurden bei einem illegalen Rennen in Hagen fünf Menschen schwer verletzt, darunter zwei Kinder. Im April 2015 starb eine 19-jährige Radfahrerin in Köln in Folge eines illegalen Autorennens, nachdem einer der Fahrer bei Tempo 100 die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hatte. Ebenfalls in Köln verlor ein 26-jähriger Radler drei Monate später sein Leben, weil ein rasender BMW-Fahrer sich nach einem Unfall überschlug und den Mann auf seinem Bike erfasste.

Auch B. war nach Zeugenaussagen mit mindestens 75 km/h unterwegs, wo Tempo 50 erlaubt war. "`Wie kann man nur so fahren?`, habe ich gedacht", beschrieb ein Zeuge vor Gericht die Fahrweise. Er schätzte die Geschwindigkeit von B. sogar auf 80 bis 100 km/h. Eine andere Zeugin, der B. schon deutlich vor dem Unfall wegen seiner Fahrweise auffiel, sagte damals zu ihrem Beifahrer: "Der wird noch einen Unfall bauen", erinnert sie sich vor Gericht. B. selbst gab vor Gericht zu Protokoll, er sei nicht "viel zu schnell gefahren - so 50 bis 60 km/h". Egal ob verzerrte Wahrnehmung oder mangelnde Einsicht - für die Angehörigen von Raser-Opfern muss eine solche Aussage schmerzhaft sein.

"Halbstarke Adrenalinjunkies"

Fälle wie der von Alfred B. haben in Deutschland eine Diskussion um härtere Strafen für Raser losgetreten. Denn nicht selten erhalten die Fahrer eine Freiheitsstrafe auf Bewährung - so wie Alfred B. Er wurde am Montag wegen unerlaubter Fahrerflucht zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung verurteilt, außerdem wird ihm der Führerschein für ein Jahr und elf Monate entzogen.

Zu wenig - wie einige Experten mittlerweile kritisieren. So sagte der verkehrspolitische Sprecher der CDU in NRW, Klaus Voussem, zu Raser-Unfällen: "Es ist schwer zu ertragen, dass die Täter nahezu ungeschoren davonkommen." Durch diese Urteile bestehe die Gefahr, dass solche Taten als "Kavaliersdelikt" verstanden werden könnten. Die Gerichte müssten auch das Schicksal der Opfer und ihrer Angehörigen bei der Strafzumessung in den Blick nehmen. "Ich wünsche mir, dass die Justiz deutlichere Zeichen setzt", so Voussem.

Vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung wurde Alfred B. freigesprochen. Das Gericht folgte in seiner Entscheidung zwei Sachverständigen, die den Tod von N. als nahezu unvermeidbar ansahen. Auch bei einer angemessenen Geschwindigkeit von 50 km/h und vorherigem Abbremsen wäre die Wucht des Aufpralls wahrscheinlich für den Fußgänger tödlich gewesen, so die Experten. Alfred B. entschuldigte sich vor Gericht. Dafür stand er auf, die Hände gefaltet, den Blick Richtung Angehörige gerichtet: "Es tut mir von Herzen leid, was da passiert ist. Ich konnte das nicht verhindern", sagte er. Zuvor hatte es keinen Kontakt zu den Verwandten des Opfers gegeben.

"Wer (...) Menschen verletzt oder tötet, für den gibt es nur einen Platz: hinter Gittern. Freiheitsstrafen ohne Bewährung und ein lebenslanger Führerscheinentzug sind das Mindeste angesichts des ungeheuren Leids, das sie den Opfern und Hinterbliebenen verursachen. Der Führerschein ist kein Grundrecht für halbstarke Adrenalinjunkies", formulierte es der CDU-Verkehrsexperte Patrick Schnieder auf seiner Homepage nach einem Raser-Unfall in NRW.

Auch der Deutsche Verkehrsgerichtstag warnte bereits vor Jahren vor einer Entkriminalisierung der fahrlässigen Tötung im Straßenverkehr. In einer Zeit steigender Mobilität laufe zwar jeder Verkehrsteilnehmer Gefahr, einen Unfall zu verursachen. Leben und Gesundheit potenzieller Unfallopfer verdienten aber "höchstmöglichen Schutz", forderten die Verkehrsjuristen 2012.

Keine Abschreckung durch hohe Strafen

"Blickt man auf die Unumkehrbarkeit des Todes des Opfers" falle die Strafe "sicher immer zu gering" aus, sagte Strafrechtsprofessor Jan Zopfs von der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Doch er weist darauf hin, dass man dem Täter eben nur "einen Fahrlässigkeitsvorwurf" machen kann.

Ist das wirklich so? Kalkuliert ein Raser nicht zwangsläufig ein, dass sein Auto bei deutlich überhöhter Geschwindigkeit zur Mordwaffe wird?

Nein, sagt Zopfs. Zwar liege auf der Hand, dass Raser "aus Eigennutz oder Gleichgültigkeit, also aus Rücksichtslosigkeit" die Verkehrsvorschriften nicht beachten. Doch Raser unterschätzen typischerweise völlig die Gefahren überhöhter Geschwindigkeit und denken nicht ansatzweise an Todesgefahren, so Zopfs . "So gesehen halte ich es im Einzelfall durchaus für angemessen, wenn eine fahrlässige Tötung durch erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung dennoch nur mit einer Freiheitsstrafe geahndet wird, die noch zur Bewährung ausgesetzt werden kann."
Die Chance, durch härtere Strafen andere Autofahrer abzuschrecken, sieht er nicht: "Denn ein potenzieller Raser hält seine Fahrweise ja nicht für todesgefährlich und wird deshalb durch eine höhere Strafe für eine fahrlässige Tötung gar nicht angesprochen", sagt er. "Effektiver dürfte es sein, potenziellen Rasern durch Schulungen die Lebensgefährlichkeit hoher Geschwindigkeiten bewusst zu machen."

In der Schweiz sieht man das anders. Seit 2013 haben die Eidgenossen die Strafen für Raser verschärft. Wer dort die Geschwindigkeit deutlich überschreitet, dem drohen mindestens ein Jahr Gefängnis und Führerscheinentzug.

Quelle : spiegel.de

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