Italiens Kampf gegen die nicht enden wollenden Frauenmorde

  08 Juni 2016    Gelesen: 897
Italiens Kampf gegen die nicht enden wollenden Frauenmorde
Eine junge Römerin ist von ihrem Ex-Freund bei lebendigem Leib verbrannt worden. Mit einer einmaligen Protestaktion lehnt sich jetzt das ganze Land gegen Gewalt und Frauenmorde auf.
Laura Boldrini eilt zum Fenster, reißt es auf und zieht ein rotes Tuch von der Größe einer Flagge herein, hält es fest in der geballten Faust hoch, während sie spricht. Sie ist aufgeregt, fast wütend. #Saranonsara, darum geht es ihr. Die in sozialen Netzwerken gestartete Initiative, die sich unter diesem Hashtag sammelt, ist ein Aufschrei, dass mit der maßlosen Gewaltwelle gegen Frauen in Italien endlich Schluss sein soll. Innerhalb von wenigen Tagen haben sich Tausende in ganz Italien der Aktion angeschlossen und rote Tücher, Kleider, Flaggen an Fenster und Balkons gehängt. "Saranonsara" heißt so viel wie "Sara wird es nie wieder geben".

Sara Di Pietrantonio war eine 22 Jahre alte Wirtschaftsstudentin, die Ende Mai am Rand einer Straße der Peripherie von Rom starb. Sie verbrannte bei lebendigem Leibe. Es war kein Unfall. Ihr früherer Freund hatte Sara mit Benzin überschüttet und angezündet – aus Eifersucht. Ihre Mutter, die am darauffolgenden Tag die Tochter suchte, fand die verkohlte Leiche am Straßenrand, nicht weit vom ausgebrannten Auto, und brach ohnmächtig zusammen.

Mord in den eigenen vier Wänden

Italien war tief erschüttert. Seit Anfang 2015 gab es 155 Morde an Frauen. 2006 war das schlimmste Jahr, damals wurden in zwölf Monaten 195 Morde gezählt. Die Täter morden meistens in den eigenen vier Wänden, zu Hause in der Familie, sind Lebensgefährten und Ehemänner, manchmal auch Söhne oder Brüder.

Das rote Tuch an ihrem Fenster ist eine starke Geste, es hängt dort seit mehr als einer Woche. Laura Boldrini weiß genau, dass es für hohe Politiker eher ungewöhnlich ist, Protestfahnen an Gebäude der höchsten staatlichen Institutionen zu hängen. Das machen sonst Aktivisten von Greenpeace oder ähnlichen Protestgruppen. Boldrini, 55, ist aber Präsidentin der "Camera", wie die Italiener ihr Abgeordnetenhaus nennen, und bekleidet damit nach der italienischen Verfassung das dritthöchste Amt im Staat, gleich nach Staats- und Senatspräsident, noch vor dem Ministerpräsidenten.

Dass die Aktion ungewöhnlich ist, ist ihr egal. Sie ist ja auch eine Kämpferin, hat lange für die Vereinten Nationen gearbeitet, in Kriegsgebieten rund um den Globus und bis 2012 für 14 Jahre als Sprecherin der Flüchtlingsagentur UNHCR für Südeuropa. Ins Parlament wurde sie als unabhängige Kandidatin für die linke Umweltpartei Sinistra, Ecologia & Liberta gewählt. "Gerade wir, die höchsten Institutionen im Land, haben die Pflicht, uns den Initiativen der Bürger anzuschließen", sagt sie der "Welt". Auf Boldrinis Aufruf hin leuchten rote Fahnen nun auch vor Rathäusern, vom Norden bis nach Palermo auf Sizilien. Unten am Parlamentsplatz bleiben Passanten stehen, die die energische Politikerin am Fenster wiedererkennen: "Viva Presidente!"

"Sara könnte noch am Leben sein"

Vor allem mit dem Wegschauen, wenn es um brutale Übergriffe auf Frauen geht, soll endlich Schluss sein. Die Leiche von Sara Di Pietrantonio wurde in einem Laubhaufen am Straßenrand gefunden. Sie suchte dort eine letzte Rettung, kauerte sich hinein, vielleicht auf Kühle hoffend, bevor sie qualvoll starb. Geblieben sind von der grausamen Tat ein schwarzer Fleck, die verkohlten Blätter, und Saras ausgebranntes Auto am Straßenrand wenige Meter davon entfernt.

Es erregte Empörung und Wut, dass die junge Frau als brennende Fackel am Straßenrand entlanggelaufen war, vor dem Mann floh, den sie geliebt hatte und der sich nun rächen wollte, dass sie ihm aufgrund dauernder Gewaltszenen den Laufpass gegeben hatte. Dass sie um Hilfe schrie, aber keiner der Passanten geholfen oder wenigstens die Polizei gerufen hatte, bevor sie tot zusammenbrach.

"Sara könnte noch am Leben sein", sagte der hohe römische Polizeifunktionär Luigi Silipo am Tag nach dem Delikt, und auf den Gesichtern der Ermittler stand Entsetzen, als sie der Presse die grausamen Details der Tat erklären mussten. Es brach eine öffentliche Diskussion los, ob und wie man als Zeuge einer Tat helfen könne. Tatort war die Via della Magliana, eine Straße an der südlichen Peripherie der Metropole, die kilometerlang auch durch unbewohnte Gegenden führt. Ihren Namen trägt auch die in Italien berüchtigte Banda della Magliana, eine Verbrecherbande, deren zweifelhafter Ruhm als Handlanger für Mafiaorganisationen und Terroristen in die italienische Kriminalgeschichte einging.

Die Magliana ist in einigen Abschnitten auch Straßenstrich, Heimat von Kleinkriminellen, römischer Unterwelt. Gerne hält man da nachts um drei Uhr nicht an. Auch die fünf Kandidaten für die Bürgermeisterwahlen in Rom, darunter zwei Frauen, stotterten etwas verlegen herum, als sie in einer TV-Konfrontation danach gefragt wurden.

Ernst der Situation nicht erkannt

Für Boldrini ist eine solche Argumentation eine schlechte Ausrede. Für eine Frau sei es natürlich riskant, an so einer Straße nachts zu halten. Aber als Zeugin hätte sie wenigstens "laut geschrien und damit den Täter vielleicht eingeschüchtert, sofort die Polizei gerufen", sagt sie. Niemand hatte das getan. Zwei Zeugen, die später verhört wurden, verteidigten sich: Sie hätten den Ernst der Situation nicht erkannt.

Als Di Pietrantonios Ex-Freund zwei Tage nach der Tat sein Geständnis ablegte, sagte er, dass er aus maßloser Eifersucht gehandelt habe und bezeichnete sich als "ein Monster". Vincenzo P., ein privater Wachmann, hatte sie zuvor schon mehrfach bedroht.

Italien hat seit 2013 ein Gesetz, das erhebliche Strafverschärfungen bei Gewalt gegen Frauen eingeführt hat. Boldrini ist stolz darauf, dass es die erste Amtshandlung ihrer Legislaturperiode war. Stalking und häusliche Gewalt sind in das Strafgesetzbuch integriert, und für Mord und Totschlag nach Stalking sind automatisch lebenslängliche Haftstrafen vorgesehen. Aufsehen erregte der Fall von Luciana Annibali, deren Ex-Freund sie mit Säure übergoss. Nach zwei Dutzend Operationen traute die junge Anwältin sich wieder an die Öffentlichkeit, auch um die Gesellschaft aufzurütteln. Sie schob einen Prozess an und erreichte, dass der Täter jetzt zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde.

Doch es reicht nicht. "Wir haben ein kulturelles Problem", sagt Präsidentin Boldrini. In Italien sei die Rolle der Frau einfach noch zu schwach. Frauen wählen erst seit dem Zweiten Weltkrieg. Nur vier von zehn Frauen haben einen Job, zu wenige in Spitzenpositionen. Weibliche Titel für Politikerinnen hat erst Boldrini eingeführt, dafür wurde sie scharf kritisiert. Die Werbung sei an vielem schuld: "Bei uns verkauft sich alles über den Körper der Frau, über das Aussehen und nicht über die Leistung." Unternehmer, aber auch Politiker schüren diese Vorurteile weiter, nicht zuletzt auch der frühere Regierungschef und Frauenheld Silvio Berlusconi. Laura Boldrini wird im Parlament nun einen "Saal der Frauen" eröffnen, im Andenken an große Politikerinnen und Zivilheldinnen. Bisher gibt es den nur für italienische Männer.

Quelle : welt.de

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