Russland schickt Millionen Einwanderer nach Hause

  09 Juni 2016    Gelesen: 1001
Russland schickt Millionen Einwanderer nach Hause
Die Jobsuche führte jahrelang Millionen von Gastarbeitern aus Zentralasien nach Russland. Wegen der anhaltenden Wirtschaftskrise schickt Moskau sie nun zurück. Nicht alle lassen sich das gefallen.
Der tote Winkel der westlichen Berichterstattung liegt auf halbem Weg von Moskau nach Peking, in Zentralasien. Seit Russlands Wirtschaft infolge der westlichen Sanktionen und einheimischer Misswirtschaft am Boden liegt, haben auch die Nachbarn wenig zu lachen. Das gilt nicht zuletzt für die sogenannten Stan-Staaten, die ehemaligen Sowjetrepubliken Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan.

Nicht nur brach der Handel mit ihnen ein, Russland änderte auch seine Einwanderungsbestimmungen und schickt massenweise Gastarbeiter in ihre Herkunftsländer zurück. An die zwei Millionen usbekische Arbeitsmigranten seien in den vergangenen eineinhalb Jahren aus Russland zurückgekommen, behaupten Offizielle in Usbekistan. Von einigen Hunderttausend spricht man im Armenhaus Tadschikistan.

Obwohl die Zahlen wohl zu hoch gegriffen sind – die offizielle russische Statistik spricht von "nur" etwa einer Million Gastarbeiter, die das Land verlassen hätten: Ein Teil von ihnen gilt aufgrund der fehlenden Arbeit und der mangelnden Verwurzelung zu Hause sowie der geografischen Nähe zu Afghanistan als hochanfällig für radikal-islamische Einflüsse.

Wenig Perspektiven in Staaten der Ex-Sowjetunion

"Unsere wirtschaftlichen Bedingungen bergen das Risiko, dass sich ein Teil der Rückkehrer extremistischen Gruppierungen anschließt", meinte Gusel Maitdinowa, Leiterin des Zentrums für geopolitische Studien in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe, schon im Vorjahr.

Jahrelang hatten Verdienstaussichten Menschen aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion nach Russland geführt. Gerade Usbeken und Tadschiken, aber auch Kirgisen stellten aus Mangel an Perspektiven im eigenen Land neben den Ukrainern und Moldawiern den Großteil der dortigen Gastarbeiter.

Vor allem als hohe Rohstoffpreise in den Nullerjahren der russischen Wirtschaft zu jährlichen Wachstumsraten von sieben Prozent verhalfen, zog es Menschen aus den umliegenden Ländern massenweise ins größte Land der Welt. Ob Bauarbeiter, Straßenfeger oder Kindermädchen – Migranten aus den Anrainern waren gefragt, weil sie erstens Russisch sprachen und zweitens billig waren.

Hohe Dunkelziffer an illegalen Migranten

Wer nicht mit Familie kam, ernährte von Russland aus seine mehrköpfige Familie im Herkunftsland. Für die ärmsten Staaten war dies schon bald einer der wichtigsten Wirtschaftstreiber: In Tadschikistan machten Überweisungen aus Russland etwa die Hälfte des Bruttoinlandsproduktes aus, in Kirgistan ein Drittel, in Usbekistan immerhin noch ein Zehntel.

Die Migrantenströme aus den Nachbarländern nach Russland waren kein Randphänomen. Die Zahl der zuziehenden Personen bewegte sich im zweistelligen Millionenbereich. An die elf Millionen Ausländer im Land zählte die russische Migrationsbehörde zu Beginn der Wirtschaftskrise Ende 2014 – der Großteil von ihnen ohne Daueraufenthaltsgenehmigung und ohne unbefristeten Arbeitsvertrag.

Hinzu kommt die hohe Dunkelziffer der Personen, die sich illegal im Land aufhalten. Wjatscheslaw Postawnin, Vorsitzender der Stiftung "Migration im 21. Jahrhundert", schätzt, dass sich allein in der Metropole Moskau, Russlands größtem Wirtschaftsraum, an die 1,5 Millionen illegale Migranten aufhalten –ein Mitgrund für die hohe Ausländerfeindlichkeit in Russland.

Arbeiten in Russland lohnte sich plötzlich nicht mehr

Dass Gastarbeiter nun zurückgehen, hat mehrere Gründe. Da ist zum einen der radikale Wertverlust des russischen Rubels, der infolge des Ölpreisverfalls und der westlichen Sanktionen um mehr als die Hälfte absackte. Mit einem Schlag reduzierte sich so der für die Überweisung nach Hause weggelegte monatliche Lohnanteil der Gastarbeiter auf durchschnittlich gerade noch 200 Dollar – weniger als der Durchschnittslohn in Usbekistan. Das Arbeiten in Russland lohnte sich plötzlich nicht mehr.

Zum anderen hat Russland eine härtere Gangart gegenüber Arbeitsmigranten eingelegt, nachdem es 2012 in Moskau zu Massendemonstrationen gegen sie gekommen war. Schon bald hat sich die Zahl der Abschiebungen jener Gastarbeiter, die Rechtsverletzungen begangen haben, vervielfacht. Innerhalb von vier Jahren erhielten 1,6 Millionen Menschen aus GUS-Staaten Einreiseverbot, rechnete kürzlich die Wirtschaftszeitung "Wedomosti" vor. Der Großteil von ihnen seit Beginn der Rezession.

Gleichzeitig wurde der Zugang zum Arbeitsmarkt neu geregelt. Neu wird ein Nachweis von Sprach- und Landeskenntnissen verlangt. Zudem kommen auf Arbeitgeber neue Abgaben zu, in Moskau rund 800 Euro pro Jahr für jeden Gastarbeiter. Das neue System habe die Kosten einer ausländischen Arbeitskraft derart nach oben getrieben, dass es für einen russischen Arbeitgeber schon billiger sei, einen Russen einzustellen, erklärt Konstantin Romodanowski, Chef des Migrationsamtes. Weil man politisch keine Visumpflicht einführen könne, greife man eben zu administrativen Hürden, sagen Experten.

Attraktiver Arbeitsmarkt für Migranten aus Zentralasien

Zieht die Wirtschaft in Russland wieder an, was frühestens ab 2017 der Fall sein könnte, werde die Arbeitsmigration nach Russland aus Zentralasien wieder zunehmen, heißt es in einer Studie der Eurasischen Entwicklungsbank und des UN-Entwicklungsprogramms. Zumindest in den kommenden 15 Jahren bleibe Russland der attraktivste Arbeitsmarkt für Migranten aus Zentralasien. Dass nämlich die Russen selbst auf Dauer die Arbeiten der Migranten übernehmen, gilt als wenig wahrscheinlich.

Schon jetzt würden Migranten allmählich wieder zurückkommen, erklärt Wadim Beswerbny, Experte für soziale Demografie an der Russischen Akademie der Wissenschaften. Das habe unter anderem mit dem russischen Importembargo für westliche Agrarprodukte zu tun, das zu neuen, schlecht bezahlten Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft geführt habe. Und es habe damit zu tun, dass "die wirtschaftliche Situation in den GUS-Staaten noch trauriger ist als in Russland".

"In Kirgistan findet man keinen Job"

Diese Erfahrung hat der 42-jährige Nurlan aus der kirgisischen Hauptstadt Bischkek schon hinter sich. Die Wirtschaftskrise in Russland überstand er, indem er 170 Kilometer außerhalb von Moskau für umgerechnet 250 Euro im Monat Schweine hütete.

Heute arbeitet er in einem Moskauer Unternehmen für Rasenverlegung, während seine Frau als Putzfrau in einer Bank unterkam. Gemeinsam verdienen sie 750 Euro im Monat, die zum Teil in die Ausbildung ihres Sohnes fließen.

"Nach Kirgistan zurück fahren jetzt nur die, die das Geld für eine Wohnung bereits beisammenhaben", sagt er. "In Kirgistan selbst findet man keinen Job."

Quelle : welt.de

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