Als die Beamten der Polizei Senden am 17. Oktober 2015 wenig später eintreffen, finden sie zwei Mädchen. Eines, Melina R., 17 Jahre alt, liegt am Fuße einer Kellertreppe, 1,65 Meter groß, 56 Kilogramm schwer. Tot. Das Gesicht kaum zu erkennen. 49-mal wurde auf sie eingestochen, allein 41-mal ins Gesicht. Das andere Mädchen sitzt wenige Meter von der Leiche entfernt, 1,72 Meter groß, 150 Kilo schwer, apathisch, angetrunken, Blut an den Händen und im Gesicht. Megi B., damals 18 Jahre alt, fragt: "Habe ich sie umgebracht?"
Das war das blutige Ende der Geschichte von Megi und Mel. Das Ende einer Liebe.
Angefangen hat sie 2010. Da war Megi 13 und Melina 12 Jahre alt. Megis Familie ist gerade wieder aus einer Wohnung geflogen, die Polizei war da, wie so oft, wenn die Eltern aufeinander losgingen. Jetzt ziehen sie ins westfälische Senden, und Megi muss wie im Jahr zuvor und im Jahr davor die Schule wechseln. Sechste Klasse, Edith-Stein-Hauptschule. Melina ist schon da, ihre Eltern sind glücklich miteinander, sie ist das dritte Kind, das Nesthäkchen. Ihr Vater sagt: die Krönung.
Melina ist ein fröhlicher, aber auch ein ungewöhnlicher Mensch. Sie hasst Ungerechtigkeit, ist sehr direkt, deshalb hat sie nicht viele Freunde. Sie kann es nicht leiden, wenn die anderen lästern. Und das sagt sie ihnen ins Gesicht. Auf dem Schulweg kauft sie jeden Morgen ein Brötchen und bringt es Siegfried, einem Obdachlosen. Er hat doch sonst niemanden. An Weihnachten, wenn die anderen strahlen, weint Melina, weil es sie bedrückt, dass Siegfried alleine ist. Megi, die Neue, ist schüchtern, dick, ein klassisches Opfer, könnte man meinen. Doch Megi ist auch einen Kopf größer als die Mädchen in ihrer Klasse, ein Jahr älter. Sie wird eine Leitwölfin. Die anderen schauen zu ihr auf. Doch Megi schaut bloß auf Melina, sie will nur eines: ihre ABF sein. Die allerbeste Freundin.
Wenn die Mutter von Megi spricht, klingt es, als rede sie von einem Haustier
Ein halbes Jahr später sind sie ABF. Tuscheln, Händchenhalten, Twilight. Hab dich lieb, ich dich auch. Mädchen eben. Dann will Megi mehr, Liebesbriefe kommen: Verliebt sein könne so schön sein, schreibt Megi. Sie malt Herzchen aufs Papier. Melina weiß nicht recht. Liebe, darunter stellt sie sich einen Mann vor, groß, stark, mit Anzug.
Megi mag keine Schminke, sie trägt meistens Jogginganzug und die Haare kurz geschnitten. Melina dagegen liebt es, sich zu stylen wie die Mädchen in den Vampirfilmen. Sitzen die langen Haare nicht perfekt, geht sie nicht aus dem Haus. Flecken auf dem Schuh akzeptiert sie nicht. Bindet sie den Gürtel an ihrem Mantel zu, müssen beide Enden exakt gleich lang sein. Megi nennt Melina: Mel. Melina mag das. Das klingt nach großer, weiter Welt. Nicht nach Senden.
"Am Anfang waren sie einfach Freunde", sagt Nelli R., Melinas Mutter, "als Melina dann 14 war, hat sie mir gesagt, sie seien jetzt ›zusammen‹. Aber was heißt das schon? Mit 14? Sie waren noch Kinder!" Nelli R. sitzt neben ihrer älteren Tochter und dem Ehemann am Esszimmertisch in ihrer Wohnung in Senden. Es ist jetzt sieben Monate her, dass Melina getötet wurde, und die Mutter kann es immer noch nicht fassen. "Ich glaube, dass sie lebt. Ich glaube das ganz fest. Dass sie einfach nur weggezogen ist." Melina ist ihr im Traum erschienen, gleich in der ersten Nacht nach ihrem Tod. Sie hat gesagt: "Mama, ich bin nicht tot."
Melinas Eltern kamen 1992 aus Kirgisien. Sie hatten eine Tochter, einen Sohn und viele Verwandte, die schon früher nach Senden gekommen waren. Die Mutter fand Arbeit in einer Metzgerei, der Vater in einem Malerbetrieb, sie lernten Deutsch, sie schufteten, am 3. Januar 1998 kam Melina zur Welt. Ein russisches Sprichwort sagt: Ein Kind ist kein Kind, zwei sind ein halbes und drei ein ganzes. Sie leisteten sich ein kleines Häuschen zur Miete. Melina und ihre Schwester Julia waren ein Herz, wie die Mutter sagt.
Megis Eltern kamen 1996 aus Polen nach Deutschland. Sie hatten drei Kinder, keine Arbeit, keine Ausbildung und keinen Plan. Sie trennten sich, versöhnten sich, trennten sich, versöhnten sich. Am 1. Mai 1997 kam Megi zur Welt. Sie war kaum mehr als ein weiteres Problem für die Familie. Ihr Onkel hat im Alkoholrausch seine Frau getötet, der älteste Bruder wurde mit elf Jahren in eine geschlossene Jugendeinrichtung eingewiesen, war notorisch kriminell, psychisch krank. Erst 14 Jahre später kam er wieder frei.
Der Vater trank und verprügelte die Mutter. Die Mutter ging fremd und verprügelte Megi. Sie war noch keine sieben Jahre, da ließ die Mutter sie schon nächtelang allein. Als die Eltern sich endgültig trennen, ist Megi elf und völlig durcheinander. Sie will weder bei ihrer Mutter leben noch beim Vater, der eine neue Frau hat. Sie zieht freiwillig in ein Heim. Ihre Mutter besucht sie dort im Jahr ganze zwei Mal. "Ich wollte sie nicht mit Gewalt an mich binden", rechtfertigt sie sich später vor dem Landgericht Münster. Hier bei der Jugendstrafkammer findet aktuell der Prozess gegen Megi B. statt. Ihr wird Mord aus niedrigen Beweggründen vorgeworfen. Wenn ihre Mutter von Megi redet, klingt es, als spreche sie von einem Haustier.
Während Megis Eltern von der Beziehung der beiden Mädchen nichts ahnen – oder nichts wissen wollen –, sind Melinas Eltern in Sorge. Sie haben sich die Zukunft ihrer Tochter anders vorgestellt, sie spüren, wie sich das sonst so anhängliche Kind von ihnen abwendet. "Megi hat unsere Melina total manipuliert. Sie hat ihr eingeredet, dass sie Männer hassen muss – vor allem ihren Vater, den sie doch so sehr geliebt hat", sagt Nelli R. Ist Megi bei Melina zu Besuch, liegt sie den ganzen Tag auf dem Bett und richtet an niemanden ein Wort – außer an Melina. Sie erscheint nicht zu den gemeinsamen Mahlzeiten, isst nachts, wenn alle schlafen. "Für uns war sie kaum sichtbar", sagt Nelli R.
Nach der ersten Phase der Verliebtheit streiten sich die beiden oft. Megi will Melina ganz für sich und verhält sich wie deren Herrin. Als sie ihr einmal aufträgt, etwas aus dem Kühlschrank zu holen, und Melina sich weigert, rennt sie ihr hinterher und versetzt ihr einen Schlag in den Rücken. Ein andermal schneidet sie Melinas Lieblings-Kuscheltier, einer Stoffente, einen Flügel ab und reißt ihr ein Auge heraus. Sie zerstört, was Melina gefällt. Die soll allein Megi schön finden. Sie soll sich die Haare abrasieren, wie Megi. Sich Tunnelohrringe machen lassen, wie Megi. Und Melina ergibt sich. Das einst ordentliche Mädchen vermüllt ihr Zimmer und wird zum Ebenbild der Freundin.
"Wir haben Melina kaum erkannt in dieser Zeit", sagt ihr Vater, "sie war Megi hörig." Das bestätigt auch Megis Schwester vor Gericht. Melina sei fast die Stalkerin ihrer Schwester gewesen. Habe, wenn sie nicht in die Wohnung durfte, nachts vor ihrem Fenster geschlafen. Immer wenn Megi nach Hause kam, klingelte das Telefon, als habe Melina gespürt, wann Megi die Tür aufschloss. "Ich hatte manchmal das Gefühl, Melina hätte eine Kamera bei uns installiert."
Es ist nicht einfach, die Dynamik solcher Beziehungen zu begreifen. Glaubt man Melinas Eltern, war ihre Tochter wie verblendet. Sie habe immer nur das Gute in Megi sehen wollen und das Schlechte nie erkannt, egal, wie sehr diese sie auch malträtierte. Es sei für Melina nicht Liebe gewesen, sondern Mitleid. Sie habe Megi, dem Kind aus einer kaputten Familie, nicht wehtun wollen. Glaubt man Megis Schwester, planten die beiden ihre Hochzeit, wollten zusammenziehen, ein gemeinsames Leben aufbauen. Sie sagt: "Megi war nie in ihrem Leben so glücklich wie mit Melina." Die beiden waren fast vier Jahre lang zusammen. Bis zum Valentinstag 2015.
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