Dieser Samen-Bunker soll im Ernstfall die Welt retten

  16 Juni 2016    Gelesen: 1113
Dieser Samen-Bunker soll im Ernstfall die Welt retten
Die Vielfalt der Flora ist bedroht, viele Arten gibt es in freier Natur kaum noch. Außer in Spitzbergen – wo in einem Hochsicherheitsbunker das pflanzliche Erbe der Menschheit aufbewahrt wird.
Jetzt müssten eigentlich ein paar futuristisch gekleidete Soldaten um die Ecke biegen. Oder der Weltraum-Fiesling Darth Vader aus der "Star Wars"-Saga hinter der Wand hervortreten. Diese Höhle, 80 Meter tief in den Berg getrieben, mit Spritzzement ausgekleidet und weiß angestrichen, sieht aus wie der Vorraum eines Befehls-Bunkers. Oder einer geheimen Waffenfabrik. Schon der schmale, rechteckige Eingang am Berg, dessen Sichtbeton sich an den felsigen Hang schmiegt, strahlt etwas Mystisches aus. Wie der Eingang zu einer Unterwelt, bevölkert von Zwergen und Trollen, Gestalten, wie sie in dem "Herrn der Ringe" zu finden sind.

Es sind jetzt minus 6 Grad in der Höhle, und es wird gleich, im eigentlichen Zentrum des Tresors, noch kälter werden. Natürlich laufen an diesem unwirklichen Ort im norwegischen Spitzbergen keine Trolle oder Sternenkrieger durch das Bild, an den meisten Tagen im Jahr ist keine Menschenseele im Bunker zu sehen.

Es geht auch nicht um Waffen oder Staatsgeheimnisse, sondern um das pflanzliche Erbe der Menschheit. In der auf minus 18 Grad heruntergekühlten, etwa 27 Meter langen und zehn Meter breiten Herzkammer lagern auf einfachen Metallregalen Kisten, in denen Saatgut in vakuumverpackten Aluminiumbeuteln liegt, insgesamt mehr als 850.000 Sorten sind vertreten.

Willkommen im "Global Seed Vault", der größten Sammlung aller verfügbaren Samen von Fruchtpflanzen der Erde. Platz ist hier für 4,5 Millionen Arten verschiedener Kulturpflanzen. Jede Art umfasst im Durchschnitt 500 Samen, insgesamt könnten bis zu 2,5 Milliarden einzelne von ihnen im Tresor gelagert werden. Für gentechnisch veränderte Pflanzen aber gibt es hier keinen Platz: Ihre Lagerung ist nach den norwegischen Gesetzen verboten. Nur das Rauschen zweier Klimaanlagen ist zu hören, sonst ist es still im Berg.

Nahezu alle Staaten der Welt haben hier Kopien ihrer Saatgut-Banken hinterlegt. Etwa 1750 solcher Datenbanken gibt es, und das Depot hier im hohen Norden dient als gemeinsames Back-up, als Sicherungskopie der Vielfalt von Frucht-, Getreide- und Gemüsepflanzen, die die Menschheit in den letzten zehntausend Jahren gezüchtet hat. Permafrost und dicke Gesteinslagen sorgen seit der Eröffnung im Jahre 2008 dafür, dass die Saatgut-Muster ohne zusätzliche Kühlung eingefroren bleiben.

Einen Sicherheitsdienst am Eingang spart sich der Treuhandfonds, der den Saatgut-Tresor betreibt. Nur im benachbarten Ort Longyearbyen gibt es eine Sicherheitszentrale, die die Anlage mit Kameras, Wärmsensoren und Brandmeldern überwacht. Kein Unbefugter kommt durch die mehrfach gesicherten Stahltüren am Bunker-Portal.

"90 Prozent unserer Pflanzenvielfalt haben wir verloren"

Oft wird der Ort als eine Art Arche Noah beschrieben, als "letzte Hoffnung", wenn der jüngste Tag naht – ein dritter Weltkrieg, ein verheerender Tsunami oder ein Kometeneinschlag. Und die Bunker-Optik verführt natürlich zu Doomsday-Assoziationen.

Aber Marie Haga, die norwegische Chefin des Crop Diversity Funds, des Welttreuhandfonds` für Kulturpflanzenvielfalt mit Sitz in Bonn, kann über solche Szenarien nur lachen. "Für so dramatische Szenarien ist der Tresor eigentlich nicht gedacht", sagt sie. "In Wahrheit ist die Katastrophe nämlich schon passiert: Wir haben seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu 90 Prozent unserer Pflanzenvielfalt verloren."

In der heutigen Landwirtschaft nutzen Bauern nur hochertragreiche, resistente und wirtschaftliche Sorten. Die Vielfalt, die es einst gab, ist darüber verloren gegangen. "Allein beim Reis gibt es 200.000 verschiedene Sorten", sagt Haga – von denen aber nur ein Bruchteil in Asien auch angebaut wird. Alle Reissorten sind zwar über die verschiedenen Saatgut-Depots auch heute noch abrufbar. Aber hier an diesem Ort, nur noch 800 Kilometer vom Nordpol entfernt, liegen eben alle an einem Ort – falls einmal ein Depot verloren geht.

Und das ist schon passiert, im syrischen Aleppo. Eine Saatgut-Bank dort musste im Bürgerkrieg zurückgelassen werden, und die Forscher konnten Duplikate aus dem Bunker entnehmen. Es gibt aber auch banalere Gründe für die Entnahme: Schon ein defekter Gefrierschrank oder ein Stromausfall können eine lokale Samenbank zerstören.

An die gefrorenen Körner kommt praktisch niemand heran. Die Hoheit über die Kisten im ewigen Eis behalten die Institute und Länder, die Mitarbeiter des Fonds` fassen die Boxen auf den Regalen bei ihren unregelmäßigen Besuchen nicht einmal an. Jedes Land und jede Institution besitzt die hinterlegten Samen weiterhin und kann sie jederzeit inspizieren oder abholen. Ein Anruf in Bonn genügt, um einen Termin im Bunker zu machen. Dieses "Black Box System" sorgt dafür, dass nur der Einleger die Samen entnehmen und die Boxen öffnen kann. Wenn ein Einleger die Samen aus irgendeinem Grund zurückfordern muss, wird die gesamte Box zurückgeschickt.

Alle Länder der Welt treffen auf engstem Raum zusammen

"Das Einlagern ist kostenlos", sagt Haga. Den Unterhalt des Systems bezahlt der norwegische Staat. Marie Haga hat lange im diplomatischen Dienst gearbeitet und leitet das 30-köpfige Team des Fonds`. Sie hat in Mumbai gedient, bei den UN in New York und im Außenministerium in Oslo, aber so international war ihre Mission noch nie.

An wohl keinem Ort der Welt treffen alle Länder auf so engem Raum zusammen: Samen aus verfeindeten Staaten wie Nordkorea und Südkorea sind nur wenige Regalmeter voneinander getrennt, Kisten aus der Ukraine und Russland stehen hier Seit` an Seit`. Hier gibt es keine Rang- und Reihenfolgen, keine Groß- und Mittelmächte, kein Gut oder Böse, nur das Ziel, alle Samen der Welt zu sichern und zu beschützen.

Der Standort ist wegen des polaren Klimas und des besonderen politischen Status von Spitzbergen ideal. Zwar gehört die Inselgruppe zu Norwegen, der Spitzbergen-Vertrag von 1920 aber garantiert den unterzeichnenden Ländern unbegrenzten Zugang zu den Ressourcen sowie Wohn- und Arbeitsrecht für deren Bürger.

Das Schengen-Abkommen gilt hier nicht, erst einmal darf jeder ein- und ausreisen. Oder wie es der Treuhandfonds in seiner Selbstdarstellung schreibt: "Die ultimative Versicherungspolice für die Nahrungsmittelversorgung der Welt, die zukünftigen Generationen die Möglichkeit bietet, sich den Herausforderungen von Klimawandel und Bevölkerungswachstum zu stellen."

Bis 2050 benötigt die Welt 50 Prozent mehr Lebensmittel

Der Saatgut-Tresor übernimmt nur Samen, die für die globale Ernährungssicherheit und eine nachhaltige Landwirtschaft in der Welt von Bedeutung sind und die noch nicht im Global Seed Vault gespeichert sind. Denn die Kulturpflanzen der Welt werden in den nächsten Jahren eine immer wichtigere Rolle spielen.

Prognosen zufolge wächst die Weltbevölkerung im Laufe des nächsten Jahrzehnts um fast eine Milliarde Menschen auf insgesamt acht Milliarden an. Bis zum Jahr 2050 könnten sogar neun Milliarden Menschen auf der Erde leben. Konservativen Schätzungen zufolge wird die weltweite Nachfrage nach Nahrungsmitteln im selben Zeitraum um mindestens 50 Prozent zunehmen. Schon jetzt wird es immer schwieriger, genug Nahrung für alle zu produzieren: Aufgrund von steigenden Temperaturen, Überflutungen und Dürren sowie neuer Schädlinge und Pflanzenkrankheiten steht die Landwirtschaft vor existenziellen Herausforderungen.

Der Klimawandel bleibt die größte Unbekannte

"Entsprechend müssen wir die Nahrungsmittelproduktion erhöhen, und zwar vornehmlich über einen gesteigerten Ernteertrag, da wir nicht darauf zählen können, weitere Ackerflächen hinzugewinnen zu können", sagt Haga. Der Erhalt der großen, weltweiten Vielfalt an Fruchtpflanzen ist für sie der einzige Weg, den Landwirten und Pflanzenzüchtern die Rohstoffe zugänglich zu machen, die sie für die Züchtung neuer Pflanzenarten brauchen. "Die Sicherung der Biodiversität in der Landwirtschaft ist eine Grundvoraussetzung für Nahrungssicherheit", so Haga.

Ein bisschen Untergang droht also doch, wenn einmal so viele Menschen ernährt werden müssen. Eine der größten Unbekannten bleibt der Klimawandel. Niemand weiß, wie sich die weltweit ansteigenden Temperaturen auf die heutigen Nutzpflanzen auswirken werden. Daher bemühen sich Wissenschaftler, Pflanzen zu züchten, die in der Lage sind, unter extremen Umweltbedingungen zu überleben. Um aber anpassungsfähige Pflanzen zu züchten, braucht man die gesamte Fruchtpflanzenvielfalt – aus allen verfügbaren Quellen. Im Notfall auch aus der, die so aussieht, als sei sie von Sternenkriegern bevölkert.

Quelle : welt.de

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