Noch ein Wunder von einer Insel

  23 Juni 2016    Gelesen: 972
Noch ein Wunder von einer Insel
Kann man den Ball allein mit seinem Glauben ins Tor zwingen? Oder ins Tor singen? Spätestens nach diesem Vorrundenfinale gegen Italien ist klar: Die Iren können das.
Schon oft haben die Iren das schier Unmögliche vollbracht. Zuletzt schlugen sie in der EM-Qualifikation den Weltmeister aus Deutschland. Nun mussten sie zum Einzug ins Achtelfinale Italien besiegen. Auch das haben sie schon geschafft – Na gut: nur einmal in elf Partien seit 1926, bei der WM 1994. Bei einer Europameisterschaft aber haben die "Boys in green" noch nie die Vorrunde überstanden. Und dieses Italien von 2016 hatte allen Unkenrufen zum Trotz den Gruppensieg bereits nach nur zwei Spielen gesichert.

Aber warum nicht auf ein Wunder hoffen an diesem EM-Tag, an dem bereits das noch viel kleinere Island ins Achtelfinale einzog? Letztlich trennt die beiden Fußballzwerge doch nur ein winziger Buchstabe. Die Iren brauchten lediglich ein Tor, einen einzigen lichten Moment. Wie jener Sonnenstrahl, der an nur einem einzigen Tag des Jahres in den langen, aus riesigen Felsbrocken gebildeten Gang des prähistorischen Grabmonuments im irischen Newgrange fällt und die dunkle Grabkammer erleuchtet.
Eine alte Kulturtechnik kehrt zurück

Gott sei Dank kommen die Italiener, die im Kalenderjahr 2016 noch kein einziges Pflichtspiel-Gegentor kassiert haben, den Iren bei dieser Herkulesaufgabe ein Stück entgegen. Die größten Monumente ihrer Abwehr bleiben draußen, allen voran Torwart Buffon. Da wird es doch im italienischen Strafraum gleich etwas heller für die Stürmer von der grünen Insel! Furchtlos stürzen sie sich vom Anpfiff weg ins Getümmel; nach Art ihrer Vorväter halten sie sich nicht lange auf mit filigraner Maßarbeit, sondern wuchten sich und die Kugel in Position, als würden sie in einem Steinbruch Schwerstarbeit verrichten.
Es ist eine Schlacht der Systeme und der Moden: Die vom gepflegten Flachpass verdrängte gute, alte Kulturtechnik des mondhoch und -weit geschlagenen Holz- und Bolzballs feiert ihre Wiederauferstehung, verbunden mit der Hoffnung, das Spielgerät möge im Strafraum Verwirrung stiften wie eine wild herumirrende Flipperkugel.
Trainings- gegen Maßanzug

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Die Trainer symbolisieren perfekt die beiden Welten: Hüben der vornehme Antonio Conte in Maßanzug und Krawatte, drüben der erdverbundene Martin O`Neill in Polohemd und Trainingshose. Der Schlabberlook obsiegt: Nicht selten steht die neu formierte italienische Abwehr staunend, ja verwirrt vor der Unverfrorenheit, mit der die Iren unentwegt anrennen.

Das ist für den Fortgang des Turniers eine gute Nachricht für alle nicht-italienischen Fans: Der Catenaccio ist offenbar doch nicht genetisch bedingt; es gibt italienische Mannschaften, die beim Verteidigen Fehler machen. Am Ende wird es in der Torschuss-Statistik 12:5 für Grün stehen, auch das eine historische Zahl an diesem historischen Abend.


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