Nur eine Branche ist jetzt richtig glücklich

  25 Juni 2016    Gelesen: 581
Nur eine Branche ist jetzt richtig glücklich
Die deutsche Industrie rechnet mit massiven Einschnitten für die Gesamtwirtschaft, aber kaum ein Unternehmen geht von Einbrüchen im eigenen Geschäft aus. Richtig glücklich ist nur eine Branche.

Die deutsche Wirtschaft hat den Brexit mit Erschrecken zur Kenntnis genommen: "Das Unvorstellbare ist eingetreten", konstatierte der Bundesverband des Groß- und Außenhandels (BGA). "Der politische und wirtschaftliche Flurschaden ist gewaltig", sagte BGA-Präsident Anton Börner am Freitag. Mit weniger dramatischen Worten kommentierten viele Unternehmenschefs den Einschnitt. Man sei enttäuscht und skeptisch für die Gesamtwirtschaft, aber die Folgen für das eigene Unternehmen seien beherrschbar, lautete der Tenor vieler Äußerungen.

Uneingeschränkt positiv äußerten sich lediglich Vertreter der Gründer-Szene. "Der Brexit ist eine gute Nachricht für die deutsche Start-up-Szene", erklärte Christoph Gerlinger, Chef der German Startups Group. Schon 2015 sei Berlin in Anzahl und Finanzierungsvolumen an London vorbeigezogen – das werde sich jetzt verstärken. Fast alle Wirtschaftsvertreter forderten, das Vereinigte Königreich müsse auch nach dem Austritt aus der EU Teil des europäischen Wirtschaftsraumes bleiben.

Deutsche Unternehmen haben in Großbritannien 121 Milliarden Euro an Direktinvestitionen vorgenommen, darunter Energiekonzerne, Handelsunternehmen, Versicherer und die Autoindustrie. Sie beschäftigen dort rund 400.000 Arbeitnehmer. Mit einem Exportvolumen von 89 Milliarden Euro war das Vereinigte Königreich im vergangenen Jahr der drittwichtigste Absatzmarkt für deutsche Güter hinter den USA und Frankreich, aber noch vor China.

Deutsche Bank mit 8000 Mitarbeitern in London

In der Finanzwirtschaft könnte der Ausstieg der Briten unmittelbare Folgen haben, und zwar auf die geplante Fusion der Deutschen Börse mit der London Stock Exchange (LSE). Der umstrittene Plan, London als Sitz des fusionierten Unternehmens zu wählen, wird nun noch skeptischer gesehen. Beide Börsen betonten zunächst, den 25 Milliarden Euro schweren Zusammenschluss durchziehen zu wollen.

Die Deutsche Bank hatte schon vor der Abstimmung erklärt, bei Bedarf könnten beispielsweise die Handelsgeschäfte von London nach Frankfurt verlagert werden. Das Geldhaus ist seit mehr als 140 Jahren in Großbritannien vertreten und beschäftigt dort mehr als 8000 Mitarbeiter. "Sicherlich sind wir als Bank mit Sitz in Deutschland und einem starken Geschäft in Großbritannien gut darauf vorbereitet, die Folgen des Austritts zu mildern", sagte Vorstandschef John Cryan am Freitag. Die Konsequenzen des Brexit seien aber "für alle Seiten negativ".

Unter den Autobauern scheint BMW auf den ersten Blick am stärksten betroffen zu sein. Zu dem Konzern gehören mit Mini und Rolls Royce nicht nur zwei britische Marken, die Münchener lassen auch auf der Insel produzieren und betreiben dort vier Werke. "Die Konsequenzen dieser Entscheidung sind heute noch nicht absehbar. Klar ist, dass nun eine Phase der Unsicherheit beginnt", heißt es in einer BMW-Mitteilung. "Wir erwarten jedoch zunächst keine unmittelbaren Auswirkungen auf unsere Aktivitäten in Großbritannien." Im Vorfeld des Referendums hatte insbesondere der britische Vorstand Ian Robertson aktiv bei den Mitarbeitern für einen Verbleib in der EU geworben.

Investitionsentscheidungen werden gründlich überdacht

Wie bei BMW hieß es auch bei Daimler und Volkswagen, man könne die Auswirkungen des Brexit noch nicht abschätzen. Daimler erwartet zunächst "keine Auswirkungen auf unser Geschäft", auch VW sieht sich "gut aufgestellt" für Anpassungen an sich verändernde wirtschaftliche und politische Umstände. Die Äußerungen könnten von Zweckoptimismus diktiert sein, glaubt Auto-Experte Stefan Bratzel: "Der Brexit wird merkliche negative Auswirkungen auf die Automobilindustrie haben, die im Einzelnen noch gar nicht abschließend bewertet werden können", ist er sich sicher.
"Am stärksten sind die Hersteller und Zulieferer betroffen, die Produktionsanlagen mit hoher Kapazität auf der Insel besitzen." Unter den globalen Automobilkonzernen träfe dies vor allem Nissan und den zum indischen Tata-Konzern gehörenden Hersteller Jaguar Land Rover (JLR) mit einer Jahresproduktion von je einer halben Million Autos zu. BMW kommt in UK auf etwa 200.000 produzierte Fahrzeuge pro Jahr. Auch Toyota, Opel-Vauxhall und Honda verfügen über Werke.

Schon jetzt werde jeder Hersteller und Zulieferer anstehende Investitionsentscheidungen gründlich überdenken, glaubt Bratzel. Der Brexit werde "zu einem schleichenden Exit der Automobilindustrie von der Insel führen. Wirkliche Gewinner gibt es keine". Hingegen geht der Chef des Instituts für Automobilwirtschaft (Ifa), Willi Diez, davon aus, dass deutsche Autobauer sogar profitieren könnten. Nach kurzfristigem Kurseinbruch werde das britische Pfund wohl stärker und dadurch den Absatz deutscher Autos in Großbritannien ankurbeln, so Diez am Freitagmorgen. "Für die deutsche Automobilindustrie wird es nur kurzfristig schwieriger."

Cromme: "Es wirft uns alle zurück"

Der Autozulieferer Bosch hatte bereits zuvor für den Fall der Fälle vorgesorgt. Das Unternehmen habe sich gegen die Abwertung des britischen Pfundes abgesichert, sagte Bosch-Chef Volkmar Denner. Es gebe derzeit keine Pläne, die Investitionen in Großbritannien zurückzufahren.
Der größte deutsche Elektrokonzern, Siemens, rechnet nun mit Rückschlägen. Nach Ansicht von Aufsichtsratschefs Gerhard Cromme werden erst die nächsten Jahre zeigen, "wie schlecht die Nachricht für Europa ist". Dies komme auf die jetzigen Verhandlungen an. "Es wirft uns alle zurück", sagte Cromme am Freitag am Rande der Einweihung der neuen Siemens-Zentrale in der Münchner Innenstadt.

"In unsicheren Zeiten werden Investitionsentscheidungen verzögert. Das kann sich ganz schnell zu negativem Wachstum auswirken", so Cromme. Es gebe aber keine Katastrophenstimmung: "Das wirft Siemens nicht um." In Zukunft werde allerdings wohl "möglicherweise das Sahnehäubchen fehlen". Siemens-Chef Joe Kaeser sprach von "überschaubaren Auswirkungen" auf das eigene Geschäft.

"Für die Energiemärkte ist der Brexit definitiv negativ"

Skeptische Äußerungen kamen aus der Energiewirtschaft. "Ich bin schockiert, dass sich die Briten entschieden haben, die EU zu verlassen. Wir verlieren einen starken Mitstreiter für Marktwirtschaft, Eigenverantwortung und Wettbewerb", sagte RWE-Chef Peter Terium. Niemand kenne die genauen Folgen der Entscheidung, aber für die RWE-Aktivitäten gelte der Spruch: All business is local. "Sollte es zu Handelshürden kommen, würden uns diese wohl nur am Rande treffen", schätzt Terium. Gegenläufige Einflüsse auf das Geschäftsergebnis der britischen RWE-Töchter und Verschuldung des Konzerns in britischen Pfund würden sich gegenseitig mehr oder weniger ausgleichen.

"Für die Energiemärkte ist der Brexit definitiv negativ", erklärte der Chef des deutschen Energieerzeuger Uniper, Klaus Schäfer. In das neue Unternehmen hat der größte deutsche Energiekonzern E.on die konventionelle Stromerzeugung und die Gasaktivitäten der früheren Ruhrgas eingebracht und es abgespalten. "Auf dem Strom- und Gassektor ist der britische Markt mit dem Kontinent eng vernetzt", sagte Schäfer vor der Wirtschaftspublizistischen Vereinigung in Düsseldorf. Vor allem Großbritannien leide darunter, dass die Vernetzung nun infrage gestellt sei. Die Auswirkungen auf das Geschäftsergebnis von Uniper selbst seien aber begrenzt.

Die deutsche Chemieindustrie sieht die Brexit-Folgen ebenfalls pessimistisch. "Das ist ein schwerer Rückschlag für Europa und der Beginn einer unsicheren Zeit für das Vereinigte Königreich", hieß es bei Bayer. Der Konzern beschäftigt 900 Mitarbeiter in Großbritannien. BASF-Chef Kurt Bock drängte auf eine möglichst zügige Klärung der Frage, wie die EU und die Briten künftig zusammenarbeiten würden. Das Vereinigte Königreich bleibe ein wichtiger Markt.

Timotheus Höttges fordert Schadenbegrenzung

Auch der Verband der Internetwirtschaft (Eco) und die Lobby der Informations- und Telekommunikationstechnik (ITK) warnten vor langwierigen Verhandlungen und einer Phase der Rechtsunsicherheit.

Timotheus Höttges, Chef der Deutschen Telekom, sprach von einem "schlechten Tag für Europa". In einer globalisierten und zunehmend digitalisierten Welt seien große, einheitliche Märkte wichtig, um wettbewerbsfähig zu sein. Über Twitter forderte Höttges Schadenbegrenzung. "Wir alle müssen uns damit auseinandersetzen, warum für viele Menschen die europäische Idee – von der ich zutiefst überzeugt bin – so deutlich an Faszination verloren hat." Gleichzeitig müsste im nun folgenden Brexit-Prozess darauf geachtet werden, "dass wir die Wirtschaftsgrenze mit dem Vereinigten Königreich dauerhaft offen halten".

Für das Logistikgewerbe hat ein Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union in jedem Fall weitreichende Folgen. Es gibt zwei Szenarien: Im Falle einer ansonsten unveränderten EU könnte der Schritt Großbritanniens sogar ein deutliches Wachstum der Logistik in Deutschland auslösen, da Logistikzentren aus dem Vereinigten Königreich wieder zurück auf das europäische Festland wandern würden. Denkbar ist aber auch ein weiteres Auseinanderfallen der Union, wenn andere Länder dem Beispiel folgen sollten.

Post ist erfahren in der Anpassung an Veränderungen

"Das hätte Auswirkungen auf die Exportnation Deutschland", sagte Raimund Klinkner, Vorstandsvorsitzender der Bundesvereinigung Logistik. Den zurzeit größten Binnenmarkt der Welt gäbe es dann nicht mehr. Die Deutsche Post rechnet zunächst nicht mit negativen Auswirkungen der Entscheidung der Briten gegen einen Verbleib in der EU auf ihr Geschäft. Postchef Frank Appel sagte, die Post sei angesichts ihrer weltweiten Aktivitäten erfahren in der Anpassung an Veränderungen.

Schockiert zeigten sich Maschinenbauer und ihr Verband VDMA. "Die Entscheidung für den Austritt Großbritanniens aus der EU ist ein Alarmsignal für die Unternehmen", so die Einschätzung von Hauptgeschäftsführer Thilo Brodtmann. Der Brexit werde den Industriestandort Europa viel Vertrauen bei Investoren kosten: "Es wird nicht lange dauern, bis unsere Maschinenexporte nach Großbritannien spürbar zurückgehen werden." Bereits im ersten Quartal 2016 mussten die deutschen Maschinenbauer einen Rückgang der Maschinenexporte nach Großbritannien von vier Prozent auf rund 1,7 Milliarden Euro im Vergleich zum Vorjahreszeitraum hinnehmen. Die drohende weitere Fragmentierung Europas sei ein Schreckensszenario für exportstarke Unternehmen wie die Maschinenbauer.

Deutsche Handelsunternehmen mit Engagement in Großbritannien geben sich derweil gelassen. "Wir sehen zum jetzigen Zeitpunkt keine Veranlassung, unsere strategische Planung für den britischen Markt in Frage zu stellen", sagte eine Lidl-Sprecherin. Deutsche Discounter hatten in den vergangenen Jahren den britischen Einzelhandel aufgerollt und beträchtliche Marktanteile gewonnen.

Quelle: n24.de

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