Es sind seltsame Tage, die Boris Johnson zurzeit erlebt. Er ist der Sieger der Brexit-Kampagne. Aber statt des von ihm geschätzten Bades in der Menge verbrachte er das Wochenende in seinem Landhaus und schaute zur Beruhigung Cricket. London, die Stadt, die er immerhin acht Jahre als Bürgermeister regierte, kann er nur noch unter starkem Polizeischutz betreten. Sein Rad, mit dem er früher gern ins Rathaus fuhr, muss er wohl erst einmal stehen lassen. "Wenn wir ihn sehen, werden wir ihn von seinem blöden Fahrrad prügeln", sagten aufgebrachte Bürger am Wochenende.
Selbst der berühmteste Koch Großbritanniens, der sonst immer gut gelaunte Jamie Oliver, ist auf dem Kriegspfad.
Unter dem Hashtag #BuggerOffBoris - "Verpiss Dich Boris" - schreibt Oliver: "Macht den verfi**ten Boris Johnson zum Premier - dann wars das für mich. Dann bin ich raus. Mein Glaube an uns wäre für immer gebrochen. Lasst uns aufhören, nur Zuschauer zu sein. Wir können das nicht zulassen."
Kein Zweifel, wenn der Küchenchef der Nation solche Zeilen wagt, dann kocht die Hauptstadt und das halbe Land dazu.
Aus der Abgeschiedenheit seines Landhauses verschickt Johnson nun versöhnliche Worte, die ein tief gespaltenes Volk beruhigen sollen. Ein Sieg von 52 zu 48, so Johnson, sei "nicht wirklich überwältigend". Und weiter: "Ich kann nicht oft genug betonen, dass Britannien immer ein Teil Europas ist und bleiben wird." Ansonsten sehe er "goldene Möglichkeiten für dieses Land".
Von dieser goldenen Zukunft verabschiedeten sich an diesem Montag bereits zwei Firmen, die an vorderster Stelle den ökonomischen Zustand des Landes symbolisieren: Foxtons, die wichtigste Immobilienagentur Londons, und die Fluglinie Easy Jet, schicken düstere Prognosen und Gewinnwarnungen heraus.
Für sie materialisiert sich, was die meisten Experten vor der Abstimmung prophezeiten: In ein Land, das 52 Prozent seiner Bewohner lieber außerhalb der EU sehen wollen, wird weniger investiert, und, wenn man draußen ist, wird es teuer. Das Lager-Bier in Mallorca, in der Altstadt von Prag und an den Stränden von Kroatien, wo sich junge Briten gerne angetrunken mit Bungee-Seilen von Baukränen stürzen, kostet bald richtig.
So wie es sich darstellt, hat Johnson mit all dem nicht gerechnet, jedenfalls nicht wirklich.
Er wirkt wie ein Hochstapler, der überrascht ist, dass sein Trick tatsächlich funktioniert hat. Und nun aus seinem zusammenfallenden Kartenhaus hervorkriecht und sagt: "Ahhh, sorry, das ging schon in die richtige Richtung, aber so wie es gekommen ist, war das alles nicht gemeint."
Vielen Konservativen gilt Johnson als unvermittelbar
So erklärt es sich jedenfalls ein Minister seiner eigenen Partei, der noch anonym bleiben möchte. "Boris", so der Minister, "glaubte, dass `Remain` gewählt würde und er dann für ein Prinzip gekämpft hätte - um später als Märtyrer die Nachfolge von David Cameron anzutreten."
Andere in der Partei, die Johnson gerne führen würde, pfeifen mittlerweile auf Anonymität. Sie haben eine Kampagne begonnen, die sich ABB nennt - Anything But Boris. Alles außer Boris.
Vielen Konservativen gilt Johnson inzwischen als unvermittelbar - nicht nur, weil sie glauben, dass er mit seinem chaotischen Stil das Land unmöglich, wohin auch immer, wird führen können. Sondern, weil es ihnen als Realisten davor graut, was in den Brexit-Hochburgen des Nordens passiert - wenn klar wird, wie wenig von dem eintritt, was Boris den ökonomisch Abgehängten dort versprochen hat.
Einzig der wenig vertrauenswürdige Ukip-Chef Nigel Farage traut sich, jetzt, da er den Sieg eingefahren glaubt, zu sagen, dass es erst einmal nichts werden wird mit den goldenen Zeiten in Britannien.
Die 350 Millionen Pfund pro Woche, die in Zukunft nicht mehr nach Brüssel, sondern in die nationale Gesundheitsversorgung fließen sollen, da habe man ihn wohl falsch verstanden, so Mr. Farage. Und ja, auf eine Rezession müsse man sich wohl einstellen, aber die werde nicht so schlimm.
"Seit der Suez-Krise ist das Schicksal der Nation nicht mehr von Männern entschieden worden, die so bewusst und schamlos gelogen haben", schreibt der britische Autor Nick Cohen.
Ein guter Kerl, nur nicht ernsthaft
Es mit der Wahrheit sehr genau zu nehmen, war auch in der Vergangenheit nicht unbedingt eine Haupteigenschaft von Boris Johnson. Als Journalist flog er bei der "Times" raus, weil er geschwindelt hatte. Später als Politiker wurde er vom damaligen Vorsitzenden der Tories, Michael Howard, aus ähnlichem Grund gefeuert.
Johnson stand immer wieder auf. Die Briten verziehen ihm, weil er den Charme eines ungezogenen Schuljungen spielen ließ. Einer, der zwar gelegentlich ein Fenster einwirft, aber sonst ein guter Kerl ist und es mit der Ernsthaftigkeit nicht so wichtig nimmt.
Die Bewohner von London haben sich diesen Hallodri als Bürgermeister geleistet. "Wenn Sie mich wählen, wird Ihre Frau größere Brüste bekommen und sich Ihre Chance verbessern, einen BMW M3 zu besitzen", mit diesem wilden, augenzwinkernden Slogan warb Johnson beim Wahlkampf um das Rathaus für sich. Gewählt wurde er auch, weil der Bürgermeister in London nichts wirklich Wichtiges zu entscheiden hat.
Jetzt, da es um das Amt des Premierministers geht, sollte er den Anstand besitzen, seinen Landsleuten mitzuteilen, dass nach einem Brexit zumindest die Sache mit dem BMW schwierig werden dürfte.
Quelle: spiegel.de
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