Silvio S. schließt die Augen. Am vierten Tag des Prozesses gegen den 33-Jährigen, der die Jungen Elias, 6, und Mohamed, 4, entführt, missbraucht und ermordet haben soll, sind Trauer und Wut im Potsdamer Gericht so intensiv wie nie zuvor.
"Der macht hier auf blöd, aber …" "Das geht mir jetzt zu weit", unterbricht der Richter die Mutter. "Ich verstehe, dass Sie aufgebracht sind. Aber Sie müssen hier bitte noch auf ein paar Fragen antworten."
Nachdem an den vergangenen Terminen der Fall Elias im Mittelpunkt stand, geht es heute um den 1. Oktober 2015, den Tag, an dem der kleine Mohamed vom Gelände des Landesamts für Gesundheit und Soziales (Lageso) in Berlin verschwand.
Sie suchten überall nach dem Jungen
Aldiana J. war Anfang 2014 mit Mohamed und Medina nach Berlin gekommen; dort hat sie ein drittes Kind, Kevin, geboren. An jenem 1. Oktober, erinnert sie sich, hatte sie die Kinder in den frühen Morgenstunden geweckt, sie wollte zeitig zum Amt, Sozialleistungen abholen. "Flüchtlinge ohne Ende", seien bereits auf dem Gelände gewesen, sie zog eine Nummer und stellte sich auf stundenlanges Warten ein.
Mohamed und Medina spielten in dem Gedränge. Der Junge hatte eine Augenklappe dabei und ein kleines Fernglas, das ihm die Mutter kurz vorher bei Netto gekauft hatte. "Als ich das Amt betrat, war er plötzlich weg."
Sie schickte die neunjährige Medina los, um nach ihm zu suchen. Sie sei sich sicher gewesen, sagt sie, dass er zum nahen Flüchtlingskindergarten gelaufen war. Aber dort fand die Schwester ihn nicht. Mutter, Tochter und ein Bekannter machte sich auf die Suche.
Sie liefen das ganze Gelände ab, fragten die Kindergärtnerinnen, Mitarbeiter des Roten Kreuzes, Sicherheitskräfte. Niemand hatte den kräftigen Jungen mit den kurzen schwarzen Haaren gesehen. Schließlich, gegen 16.30 Uhr, wandte sich die Mutter an die Polizei. Ihr Sohn sei "spurlos verschwunden".
Man warf ihnen vor, sie hätten die Entführung inszeniert
In jenen Herbsttagen hagelte es Kritik am Lageso, das mit dem Flüchtlingsandrang nicht zurechtkam und dessen katastrophaler Organisation es anzulasten sei, dass am helllichten Tag ein Kind verschwinden kann. Später dann, als der mutmaßliche Täter festgenommen war, wurde die Polizeiarbeit gerügt.
Während bei Elias alle verfügbaren Kräfte aufgefahren worden waren, kam die Fahndung nach dem Flüchtlingsjungen Mohamed vergleichsweise schleppend in Gang. Die Ermittler vermuteten zunächst, die Familie hätte seine Entführung inszeniert, um ihre bevorstehende Abschiebung zu verhindern.
Erst an Tag sechs der Ermittlungen fanden Beamte Aufnahmen einer Überwachungskamera des Lageso, auf denen zu sehen war, wie ein fremder Mann in heller Kleidung Mohamed an der Hand vom Gelände führte.
Die Polizei gab ein Fahndungsfoto heraus, doch die Aufnahme war sehr unscharf. Weitere zwei Wochen vergingen, bis die Ermittler auf die Sicherheitskamera einer nahe dem Lageso gelegenen Kneipe stießen, die bessere Aufnahmen von Silvio S. mit dem Kind aufgezeichnet hatte.
Weitere fünf Tage dauerte es laut "Spiegel", bis die Ermittler dann das Material auswerteten und das entscheidende Fahndungsbild herausgaben, auf dem die Eltern von Silvio S. ihren Sohn, den mutmaßlichen Entführer und Mörder, erkannten.
"Ich bin mir sicher, dass er geweint hat"
Aldiana J. hatte ihr Kind bereits auf den ersten, pixeligen Aufnahmen identifiziert. Beamte waren mit einem Laptop zu ihr ins Flüchtlingsheim gekommen und hatten ihr das Video vom Lageso gezeigt: Blaue Jacke, roter Pulli, Jeans, weiße Turnschuhe – die Mutter erkannte ihren Sohn sofort. "Wir haben gehofft, dass er wieder zurückkommt, dass ihn jemand zurückbringt."
Während die Mutter erzählt, umgreift Silvio S. immer wieder seine Nasenwurzel mit Zeigefinger und Daumen, als wollte er Tränen unterdrücken. Offenbar nimmt ihn die Schilderung sehr mit.
"Es ist vorher nie passiert, dass Mohamed mit Fremden mitgegangen ist", sagt Aldiana J. "Ich bin mir sicher, dass er geweint und nach mir gerufen hat." Silvio S. wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Auf den Videoaufnahmen kann man sehen, dass er ein Kuscheltier dabeihatte, als er Mohamed vom Lageso wegführte.
Ob der Junge denn mitgekommen wäre, wenn ein Fremder ihm Süßes oder Spielzeug gegeben hätte, will der Richter wissen. "Dieser Mann hat ihn bestimmt angelogen und gesagt, dass er ihn zu mir, zu seiner Mutter bringt", antwortet Aldiana J. S. schüttelt den Kopf. "Da bin ich mir 100-prozentig sicher." Wieder schüttelt S. den Kopf. "Er hat ihn bestimmt mit Spielzeug in die Falle gelockt." S. schüttelt den Kopf nicht mehr.
Die Letzte, die Mohamed an jenem 1. Oktober gesehen hat, ist seine Schwester, Medina. Deswegen muss die Neunjährige in den Zeugenstand. Sie trägt eine rot-weiß gepunktete Schleife im Haar und baumelt mit den Beinen, ihre Füße reichen kaum bis auf den Boden.
Mohamed habe sie beim Spielen in den Arm beißen wollen, erzählt sie, "aber ich habe mich gewehrt". Er habe den kleinen Bruder auf die linke und rechte Wange geküsst, sei dann weggerannt und mit einem Becher Tee wiedergekommen. Dann sei er wieder um die Ecke gerannt. Und dann war er weg.
Aldiana J. erzählt von zwei Fehlgeburten
Sie habe ganz lange nicht schlafen können, erzählt das Mädchen. "Ich denke immer daran, dass Mohamed nicht mehr da ist." "Hast du Angst, dass das auch Kevin und dir passieren könnte, dass ihr eines Tages einfach weg seid?" Medina nickt.
Durch welches Leid die Familie gegangen ist, wird deutlich, als Aldiana J. von zwei Fehlgeburten erzählt, die sie seither erlebt habe. "Das war der Stress durch ihn", sagt sie und nickt Richtung Anklagebank. Ihre Anwälte wollen erreichen, dass Silvio S. ihr Schmerzensgeld zahlen muss: Für die qualvollen letzten Lebensminuten von Mohamed, den er missbraucht und schließlich mit einem Gürtel erwürgt haben soll.
Mindestens 50.000 Euro wollen sie deshalb von ihm fordern, die Aldiana J. als Erbin ihres verstorbenen Sohnes bekommen soll. Außerdem fordern sie, dass das Gericht in seinem Urteil einen Anspruch für zukünftige Schäden feststellt. Sollte Medina etwa später in psychiatrische Behandlung müssen, sollen der Familie die Kosten erstattet werden.
Eigentlich hätten Aldiana J. und ihre Kinder nach Bosnien abgeschoben werden sollen. Nach dem Mord an Mohamed aber hat der Berliner Senat sie als "Härtefall" eingestuft und ihnen einen Aufenthaltstitel aus "humanitären Gründen" verliehen: Die Mutter solle am Grab ihres Sohnes trauern können.
Quelle : welt.de
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