Zu langsam für ein SOS auf dem Mittelmeer

  07 Juli 2016    Gelesen: 428
Zu langsam für ein SOS auf dem Mittelmeer
Im Mittelmeer ertrinken mehr Migranten als im vergangenen Jahr. Kritiker geben der EU-Operation „Sophia“ eine Mitschuld. Denn durch den Kampf gegen Schmuggler gefährde sie Menschenleben.
Der Weg der Migranten aus Schwarzafrika über Libyen und das Mittelmeer nach Europa gilt mittlerweile als gefährlichste Fluchtroute weltweit. Einige hundert Menschen sterben jährlich auf dem Weg durch die Wüste, an Hunger oder weil sie entführt und versklavt werden. „Routinemäßig“ – wie ein reuiger Schleuser in einem Prozess in Italien jetzt sagte – würden Flüchtlinge in Libyen, die ihre Schlepper nicht bezahlen können, an Ägypter verkauft, die sie umbringen, um ihre Organe zu Geld zu machen.

Und denjenigen, die es bis zur Überfahrt über das Mittelmeer schaffen, droht der Tod in den kaum seetüchtigen Booten der Schlepper: In der ersten Jahreshälfte 2015 ertranken etwa 1800 Migranten im Mittelmeer. Bis Ende Juni 2016 wurden nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) dagegen schon 2920 Tote gezählt, die entweder ertranken oder im Maschinenraum der Kutter erstickten.

Für diese hohe Zahl gibt Christopher Hein, Chef des italienischen Flüchtlingsrates (CIR), den Europäern eine Mitschuld. „Der Hauptauftrag der vor Libyens Küste operierenden EU-Marinekräfte in der ,Operation Sophia‘ ist eben nicht die Rettung, sondern der Kampf gegen den Menschenschmuggel“, sagt er. Gerade jetzt, wo allein am Dienstag in 35 getrennten Operationen 4500 Menschen aus dem Meer gerettet wurden, fällt auf, dass die europäischen Marinekräfte (Eunavfor Med) nicht direkt in das SOS-System der italienischen Küstenwache eingebunden sind, die von ihrer Zentrale in Rom aus das Mittelmeer „überblickt“.

Vor der „Operation Sophia“ wurden mehr Leben gerettet
Auf ihren Bildschirmen sind sämtliche Schiffe der Handelsmarine, der humanitären Organisationen, Fischer und Segler zu sehen – aber auch die von der EU-Grenzagentur Frontex geführten Einsatzkräfte in der Meerenge von Sizilien.

Nur die Schiffe der „Operation Sophia“ kann die Einsatzzentrale nicht erkennen; denn sie werden vom Radar nicht erfasst. Dabei dürften deren Marinekräfte in der Regel nahe der afrikanischen Küste unterwegs sein, also dort, wo sie Schiffen in Seenot am nächsten sind. Aber weil sie militärisch operieren, dürfen ihre Koordinaten auch von libyscher Seite nicht erfasst werden. Auf ein SOS-Signal kann die Einsatzzentrale deshalb nicht sofort reagieren, sondern muss erst beim Stab von Kommandeur Enrico Credendino nachfragen. Dabei geht kostbare Zeit verloren; es sei denn, „Sophia“ hat die Schiffbrüchigen selbst entdeckt.

Diese Zeit fehlt für die Rettung der meisten schiffbrüchigen Flüchtlinge: Obwohl heute ähnlich viele Schiffe im selben Abschnitt im Einsatz sind, retten sie weniger Leben. Vor der „Operation Sophia“, deren erste Phase im Juli 2015 begann, hatte für alle im mittleren Mittelmeer operierenden Schiffe die Rettung von Menschenleben Priorität, weshalb auch weniger Migranten auf dem Mittelmeer umkamen. „Sophia“ hingegen gefährde geradezu die Menschen in Not, sagt Hein. „Da die Schlepper wissen, dass jedes Boot sofort nach der Rettung der Schiffbrüchigen zerstört und mithin nur einmal eingesetzt werden kann“, werde wohl keines mehr seetüchtig gebaut.

Wer sich verweigert, müsse mit Ausweisung rechnen
Ihre Opfer trieben die Verbrecher dann – bisweilen mit Waffengewalt – mit dem trügerischen Hinweis aufs Boot, die Reise sei kurz; denn die EU operiere vor der Küste. „Dieser Zustand wird sich erst ändern, wenn in der dritten Phase der ,Operation Sophia‘ die EU-Kräfte die libysche Küstenwache wieder einsatzfähig gemacht haben und in den Häfen oder direkt vor Libyens Strand agieren dürfen.“ Das aber setze Verträge mit Libyen und den Vereinten Nationen voraus.

Derweil füllen sich Italiens Lager und Notunterkünfte mit den Überlebenden. Während offiziell von 120.000 Plätzen die Rede ist, stehen offenbar tatsächlich 200.000 Plätze zur Verfügung. Zum Notstand kam es also bisher noch nicht, obwohl anders als noch bis Mitte 2015 immer mehr Flüchtlinge zunächst in Italien bleiben. 2014, als Italien laut Brüssel die Flüchtlinge „einfach nur nach Norden durchwinkte“, stellten nach offiziellen Zahlen tatsächlich nur 40 Prozent der Flüchtlinge in Italien ihren Asylantrag, während 60 Prozent weiterwanderten. 2015 waren es 50 Prozent der 154.000 Migranten. Im ersten Halbjahr 2016 sind es mehr als 70 Prozent geworden, während die Zahl der ankommenden Flüchtlinge – 70.000 – ähnlich hoch ist wie 2015. Wer sich verweigert, muss laut dem Innenministerium mit Ausweisung rechnen.

Nach einem EU-Beschluss sollen die Asylantragsteller auf die EU-Mitgliedsstaaten verteilt werden. Doch das geht im Schnitt frühestens sieben Monate nach der Ankunft. Und scheitert meist ganz. Gerade etwa bat Rom die Tschechische Republik, 250 identifizierte und mit Papieren ausgestattete Migranten aufzunehmen. Prag lehnte dies allerdings in jedem Einzelfall aus „Sicherheitsgründen“ ab.


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