UNHCR warnt vor Massenflucht von Afghanen aus Pakistan

  20 Oktober 2015    Gelesen: 880
UNHCR warnt vor Massenflucht von Afghanen aus Pakistan
Im DW-Interview spricht Indrika Ratwatte, Repräsentant des UNHCR in Islamabad über die Situation afghanischer Flüchtlinge in Pakistan – und mögliche Auswirkungen auf die Flüchtlingskrise in Europa.
Deutsche Welle: Inwieweit machen Sie sich Sorgen, dass fehlende Finanzmittel das Hilfsprogramm des UNHCR für afghanische Flüchtlinge in Pakistan beeinträchtigen könnten?

Indrika Ratwatte: Das ist in der Tat ein großes Dilemma für das UN-Flüchtlingshilfswerk. Wir haben es in vielen Teilen der Welt mit humanitären Krisen zu tun, bei denen dringend Unterstützung und ein Eingreifen von außen erforderlich ist.

Auf der einen Seite haben wir die andauernden Krisen in Syrien, im Irak und im Jemen, die auch die europäische Flüchtlingskrise losgetreten haben. Und gleichzeitig müssen wir uns mit der langwierigen Flüchtlingssituation in Afrika und Asien befassen.

Es ist eine Herausforderung, die beschränkten Ressourcen zu managen, auf der einen Seite zu versuchen, Flüchtlinge zu beschützen – und gleichzeitig auf der anderen Seite nach Lösungen für Vertriebene und die Gesamtsituation zu suchen.

Indrika Ratwatte ist offizieller UNHCR- Vertreter in Pakistan
Wir haben die Sorge, dass die Geber mit der vorherrschenden Krise und den damit einhergehenden wachsenden Forderungen überbeansprucht sind. Wir befürchten, dass vor der Gesamtsituation die Lage der afghanischen Flüchtlinge keine Priorität hat und entsprechend nicht die Mittel bekommen wird, die nötig wären zu diesem Zeitpunkt.
Könnte die sich verschlechternde Situation für afghanische Flüchtlinge in Pakistan eine Massenflucht dieser Menschen in Richtung Europa zur Folge haben?

Ja, das ist genau unsere Sorge, dass so etwas passieren könnte. Wenn wir für unsere Schlüsselprogramme im Bildungsbereich für junge afghanische Flüchtlinge nicht die nötigen Mittel bekommen, werden viele junge Menschen ohne Perspektive woanders nach Alternativen suchen.

Es ist extrem wichtig, dass die jungen afghanischen Flüchtlinge in Pakistan eine qualifizierte Ausbildung und Wissen vermittelt bekommen, um eines Tages nach Afghanistan zurückgehen zu können. Noch ist von einer Massenflucht aus Pakistan nichts zu spüren. Aber es ist durchaus eine Gefahr und ein mögliches Szenario für die Zukunft.
Hat das UNHCR seine Befürchtungen auch den pakistanischen Behörden mitgeteilt?
Das UNHCR hat die Internationale Gemeinschaft auf höchster Ebene eingeschaltet. Anfang des Monats haben wir eine Veranstaltung organisiert, an der Minister aus Pakistan, Afghanistan und dem Iran teilgenommen haben. Sie haben einen Appell formuliert und die Internationale Gemeinschaft dazu aufgefordert, den afghanischen Flüchtlingen zu helfen.
Sind Sie zufrieden mit den Anstrengungen, die die pakistanische Regierung unternommen hat, um sicherzustellen, dass die Flüchtlinge im Land bleiben und nicht illegal nach Europa zu kommen versuchen?

Die nationale pakistanische Behörde und Datenbank für Registrierung (National Database and Registration Authority, NADRA) hat die entsprechenden Registrierungs-Dokumente afghanischer Flüchtlinge seit 2007 zur Verfügung gestellt.
Zurzeit sind bei NADRA 1,6 Millionen Flüchtlinge registriert. Die Dokumente nennen sich Registrierungs-Nachweis (Proof of Registration, PoR) .Trotz der Sicherheitsbedenken und der Herausforderungen, die die Unterbringung einer so großen Zahl an Flüchtlingen mit sich bringt, ist dieser Ansatz der pakistanischen Regierung vorwärtsgewandt. Das UNHCR begrüßt diesen Schritt, vor allem vor dem Hintergrund der derzeitigen Lage in Afghanistan.
Was sind die Hauptgründe dafür, dass diese Flüchtlinge nicht wieder zurück nach Afghanistan gehen?

Wir haben Interviews mit afghanischen Flüchtlingen in Aufnahmeländern geführt und Informationen ausgewertet, die wir durch unsere Präsenz in Afghanistan zusammengetragen haben. Die Menschen brauchen dringend eine Lebensgrundlage. Das ist eine der größten Herausforderungen. Die Sicherheitslage ist eine andere.

Innerhalb der vergangenen zehn Jahre sind mehr als 3,5 Millionen Afghanen mit Hilfe eines vom UNHCR gestützten Programms freiwillig in ihr Heimatland zurückgekehrt. Insgesamt sind 5,8 Millionen Flüchtlinge aus aller Welt zurück nach Afghanistan gegangen. In diesem Jahr waren es rund 50.000, die freiwillig aus Pakistan zurückgekehrt sind.

Auf der anderen Seite sind die Herausforderungen immens und die Aufnahmekapazität Afghanistans ist begrenzt. Deshalb haben wir in Zusammenarbeit mit den Regierungen in Kabul und Islamabad eine Strategie entwickelt. Diese "Lösungsstrategie für afghanische Flüchtlinge" konzentriert sich auf drei Punkte: Es geht darum, die freiwillige Rückführung zu unterstützen. Darum, eine nachhaltige Re-Integration nach der Rückkehr zu ermöglichen. Und darum, die Aufnahmeländer weiter zu unterstützen.

Im Oktober 2015 gab es einen großen Aufruf für das sogenannte "Erweiterte Rückführungs-und Reintegrations-Paket" (Enhanced Repatriation and Reintegration Package). Damit soll sichergestellt werden, dass Flüchtlinge, die in ihre Heimat zurückkehren wollen, nicht nur bei diesem Schritt selbst unterstützt werden, sondern auch danach, wenn es darum geht, wieder im Heimatland Fuß zu fassen.
Viele der afghanischen Flüchtlinge sind seit über 30 Jahren in Pakistan. Wie könnte langfristig die Lösung für dieses Problem aussehen?

Langfristig liegt die Lösung darin, in den afghanischen Dörfern und Städten die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Rückkehrer kommen und beim Staatsaufbau mitwirken können. Dazu wiederum braucht es Zugang zu grundlegendem Service, eine verbesserte Sicherheitslage und die Möglichkeit, sich eine Lebensgrundlage aufzubauen.
Meiner Meinung nach ist das standhafte Engagement der Internationalen Gemeinschaft, trotz aller schwierigen Herausforderungen nach Lösungen für die afghanische Flüchtlingssituation zu suchen, auch eine einzigartige Chance.

In Afghanistan gibt es eine Regierung der nationalen Einheit, und sie versucht nach Kräften, eine Rückkehr von afghanischen Flüchtlingen zu ermöglichen. Präsident Ashraf Ghani, der selbst den Vorsitz einer Migrations-Kommission innehat, hat das zu einer Priorität erklärt. Darüber hinaus hat Kabul einen Plan ausgelegt, um die Rückkehr afghanischer Flüchtlinge weiter voranzutreiben.

Indrika Ratwatte ist Repräsentant des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen - UNHCR - in Pakistan.

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