Entdeckung in Sachsen: Ist Deutschland 500 Quadratmeter größer geworden?

  12 Juli 2016    Gelesen: 553
Entdeckung in Sachsen: Ist Deutschland 500 Quadratmeter größer geworden?
In Sachsen hat ein kleiner Grenzfluss seinen Lauf verändert - ist Tschechien nun geschrumpft und Deutschland gewachsen? Mehrere Medien berichten dies. Der Faktencheck.
Wenn Rolf Böhm wandern geht, tut er das gewissermaßen beruflich. Der 58-Jährige marschiert regelmäßig durch einen schönen Fleck Deutschlands: Ganz im Südosten Sachsens geht er häufig durch den Nationalpark Sächsische Schweiz, dort liegt auch das eindrucksvolle Elbstandsteingebirge. Und diese Gegend ist es auch, die Böhm mit den von ihm herausgegeben Wanderkarten für Touristen erschließen will.

Um die Karten aktuell zu halten, gleicht Böhm sie in seinem Ingenieurbüro für Kartographie in Bad Schandau regelmäßig ab. Wenn sich etwa der Name eines Ausfluglokals verändert hat oder irgendein Wegmarker, dann notiert Böhm sich das auf seinen Wanderungen und trägt es in seinen Karten ein.

Im April war Böhm an der Kirnitzsch unterwegs. Genauer gesagt, an jenem Teil des Flusses, der die Grenzen zwischen Deutschland und Tschechien markiert. Als Böhm zum Abgleich auf seine alte Karte schaute, wunderte er sich: Eine Schleife des knapp 45 Kilometer langen Flusses existierte nicht mehr: "Der Fluss fließt nun geradeaus", sagt er.

Vom Hochwasser zum Altwasser

Zuvor hatte ein geologischer Prozess stattgefunden, bei dem Sedimente so lange abgetragen werden, bis der Fluss irgendwann gewissermaßen eine Abkürzung nimmt - Experten sprechen von einem Mäanderdurchbruch. Dass Flüsse Schleifen bilden, also mäandern, liegt an unterschiedlichen Fließgeschwindigkeiten im Strom. Bereits bei einem geraden Fluss werden durch Pflanzen oder Gesteine auf dem Boden auch Querströmungen erzeugt, die gegen das Ufer drücken und dort Sediment abbauen. So entstehen kleinere Biegungen und Buchten.

In einer Biegung fließt das Wasser an der Außenseite zudem schneller als an der Innenseite. Deshalb wird dort mehr Sediment mitgeführt - das äußere Ufer wird Stück für Stück abgeschliffen. An der Innenseite kann sich das Sediment durch die langsame Fließgeschwindigkeit wieder ablagern. So wird eine Biegung im Laufe der Zeit immer spitzer, die Schleifenform des Mäanders immer stärker ausgeprägt.

Laut Böhm ist das alte Flussbett bereits ausgetrocknet und stark bewachsen. Er vermutet, dass der Mäander der Kirnitzsch bei einem Hochwasser im Jahr 2013 vollends vom Hauptlauf abgetrennt wurde. "Als der Wasserspiegel sank, ist der Fluss nicht mehr in sein altes Bett zurückgekehrt", sagt er.

Bejubelte Landgewinnung

Seitdem liegt das Gebiet in der alten Schlinge, ein sogenanntes Altwasser, auf deutscher Seite. Theoretisch hätte die Bundesrepublik ein Gebiet von knapp 500 Quadratmetern, ein Stück Land von etwa 18 mal 28 Metern, hinzugewonnen - das erscheint nicht viel, ist aus kartographischer Sicht, wo es auf große Genauigkeit ankommt, aber durchaus relevant.

Die "Bild"-Zeitung jubelte schon und meldete die Verschiebung der deutschen Ostgrenze - "auch ohne Panzer". Böhm hofft ebenfalls auf die Anerkennung seiner Entdeckung von offizieller Seite. Seinen Fund hat er dokumentiert und dem Sächsischen Innenministerium mitgeteilt.

Bei der Kirnitzsch handelt es sich um eine sogenannte nasse Grenze. Davon gibt es viele: Etwa den Rhein, der entlang des Elsass die natürliche Grenze zwischen Deutschland und Frankreich bildet. Oder den Rio Grande, dort verläuft die Grenze zwischen den USA und Mexiko. Bei nicht schiffbaren Grenzwasserläufen wie dem Flüsschen in Sachsen wird die Grenze durch die Mitte zwischen den beiden Uferlinien bei mittlerem Wasserstand bestimmt. Bei schiffbaren Grenzwasserläufen deckt sich der Grenzverlauf mit der tiefsten Stelle des Flusses, dem Talweg, der nicht immer in der Mitte des Flusses liegen muss. Verschiebt sich der Talweg ein wenig, verschiebt sich auch die Grenze. So ist es auch in den Verträgen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik festgelegt.

Verschiebungen passieren alltäglich

Doch was passiert, wenn sich Grenzverläufe deutlich verschieben? Auf Fragen des Eigentumsrechts hat das in Sachsen keine Auswirkungen, so schreibt es das Wassergesetz dort seit 1998 vor. Was die Staatsgrenzen angeht: Hier macht eine Grenzkommission, bestehend aus Mitgliedern beider Länder, regelmäßige Begutachtungen und berät sich einmal jährlich. Kommt sie zu dem Ergebnis, dass sich ein Grenzverlauf relevant verändert hat, könnte es auf parlamentarischer Ebene zu neuen Vereinbarungen zwischen den beteiligten Ländern kommen - so lange gilt die alte Grenze.

Doch das ist hier nicht der Fall. Denn bei solchen kleineren Veränderungen der Grenzverläufe, die natürlichen Anpassungen unterworfen sind, hat die Ständige deutsch-tschechische Grenzkommission 2009 entscheiden: Die Grenze bleibt so, wie bisher - insbesondere in dem Bereich des Flusses, in dem jetzt die 500 Quadratmeter entdeckt wurden.

Zuletzt hatte sie in den Jahren 2007 und 2008 die Staatsgrenze an der Kirnitzsch neu vermessen und festgestellt, dass es häufiger und auf beiden Seiten zu kleinen Verschiebungen kommt. "Solche geringfügigen Veränderungen heben sich in der Bilanz aber auf", teilte das Sächsische Innenministerium mit. Die Vorbereitung einer neuen Vermessung, wie es die "Bild" schrieb, dementierten die Zuständigen gegenüber SPIEGEL ONLINE.

Mehr als 40 Prozent der deutsch-tschechischen Staatsgrenze werden durch Flüsse und Bäche gebildet - viele neigen zum Mäandern und damit zu Durchbrüchen. "Daher sind an der Staatsgrenze diese Durchbrüche ein alltägliches Phänomen, mit dem sich die deutsch-tschechische Grenzkommission regelmäßig auf ihrer jährlichen Tagung befasst", hieß es.

Immerhin dürfte die gescheiterte Verschiebung der Ostgrenze für die meisten kein allzu schwerer Schlag sein: "In die Gegend verirren sich nicht so viele Menschen ", sagt Böhm.

Quelle : welt.de

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