An einem warmen Dienstagabend wagte es Leonardo Fabbretti zum ersten Mal, das Zimmer seines Sohnes wieder zu betreten. Er ging durch die weiße Flügeltür, zögernd, als könnte er es sich noch anders überlegen. Von draußen fiel das Licht durch die Fensterläden. Fabbrettis Blick streifte über das Bett, die glatt gestrichene Decke auf den kleinen dunklen Holzschreibtisch. Dort lag, was er suchte, Damas Handy.
Nicht einmal eine Woche war vergangen, seit der Junge gestorben war, sein einziges Kind, hier in diesem Zimmer. Fabbretti hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Es war lange her gewesen, dass die Ärzte ihm Hoffnung gemacht hatten. Nun war Dama erlöst und er, der Vater, fühlte in sich einer Leere, so tief und ausschließlich, wie er es sich nie hätte vorstellen können. Das Handy, so hoffte er, würde ihm ein paar Momente verschaffen, in denen er sich an das Schöne erinnern könnte. Er würde sich auf das große Sofa im Wohnzimmer setzen, Fotos ansehen, die Dama und er in den vergangenen Monaten gemacht hatten, und wieder wissen, dass es eine Zeit vor dem Tod gegeben hatte.
Fabbretti nahm das Telefon vom Tisch und hielt seinen rechten Daumen auf die kleine runde Taste unter dem Bildschirm, wie er es unzählige Male zuvor getan hatte. Doch der Fingerabdruckscanner funktionierte nicht. Fabbretti brauchte den Zugangscode, eine vierstellige Zahlenkombination, um das Handy anzuschalten. Mit dem Fingerabdruck, das wusste er bis dahin nicht, konnte er es nur öffnen, wenn es im Stand-by-Modus war. Fabbretti versuchte, es mit irgendwelchen Zahlenfolgen, die sein Sohn als Code benutzt haben könnte: seinem Geburtsjahr, dem Code seines Vaters, ein paar zufälligen Nummernfolgen, an die er sich erinnerte. Nach einigen Versuchen war das Handy gesperrt.
Da setzte Fabbretti sich mit seinem Computer, einem kleinen, schwarzen Laptop, an seinen Schreibtisch und tippte eine Mail an Apple, den Hersteller des Telefons, mit der Bitte um Hilfe. Es sollte für einen Weltkonzern eine Kleinigkeit sein, dachte er.
Ein ungleicher Kampf
Neun Monate später, im Frühsommer 2016, sitzt Fabbretti auf einer Couch mit gemustertem Überwurf in seinem Wohnzimmer, ein Mann von 55 Jahren in Hemd, Jeans und Turnschuhen, und sagt: "Ich wäre bis vor Kurzem nicht im Traum darauf gekommen, dass so etwas passieren kann."
Denn ein Mitarbeiter von Apple hatte ihn angerufen und gesagt, man könne leider nichts für ihn tun. Und in den Zeitungen, im Fernsehen und im Internet fielen Fabbretti plötzlich Geschichten auf, die der seinen ähnelten.
Im Februar verlangte das FBI von Apple, das iPhone eines Amokläufers zu knacken. Die Ermittler hofften, auf dem Handy Hinweise oder Kontakte zu finden, die ihnen helfen könnten, die Hintergründe der Tat zu verstehen. Apple weigerte sich.
Wenige Tage später las Fabbretti von einer Mutter aus Deutschland, die Facebook verklagt hatte. Ihre Tochter war in einem U-Bahnhof gestorben, unter ungeklärten Umständen, wie es hieß. Sie hoffte zu erfahren, ob ihre Tochter sich womöglich in den Tod getrieben fühlte, unbeliebt und gemobbt in den sozialen Netzwerken. Facebook verwehrte ihr den Zugang.
Im März unternahm Fabbretti einen letzten Versuch. Er schrieb eine Mail an Tim Cook, Apples Vorstandsvorsitzenden. Als auch das nicht half, beschloss er, in einen ungleichen Kampf zu ziehen. Ein italienischer Architekt gegen einen der mächtigsten Konzerne der Welt. Aber es ging hier um die letzten Fotos, die sein Sohn gemacht hatte, und um eine große Frage: Wem gehört die Erinnerung?
Hätte sein Sohn seine Fotos entwickeln lassen, wie er es früher getan hatte, wäre Fabbretti in das Zimmer des Jungen gegangen und hätte ein Fotoalbum aus dem Regal gezogen. Niemanden hätte es interessiert. Doch die Zeiten sind längst andere. Jedes Jahr werden weltweit 480 Millionen Computer und Tablets verkauft und eineinhalb Milliarden Smartphones. Mehr als eineinhalb Milliarden Menschen nutzen Facebook und mehr als zwei Milliarden speichern wichtige Unterlagen in Clouds, gemietetem Speicherplatz auf dem Großserver einer Computerfirma.
Wenn ein Kind stirbt, ein Freund, eine Ehefrau, haben Eltern oder Lebensgefährten nicht viele Möglichkeiten, wenn sie die Zugangsdaten nicht kennen. Sie können den Hersteller der Geräte oder den Anbieter eines Dienstes bitten zu helfen. Sie können vor Gericht ziehen. Aber das ist kompliziert, das ist langwierig - und das ist teuer.
Es ist schwer, Grenzen zu setzen
Die digitale Welt ist noch immer ein Abenteuerspielplatz für Pioniere und Unternehmen, frei, grenzenlos, weitgehend unreguliert. Das gilt auch für den digitalen Nachlass. Es gibt nur wenige Onlineshops, Bezahldienste, Musikbibilotheken, nur wenige Unternehmen, die klar geregelt haben, was in Todesfällen mit persönlichen Daten passiert. Und wenn, dann kann das entweder bedeuten, dass Hinterbliebene alles bekommen oder aber gar nichts. Es macht die Lage nicht einfacher, dass Firmen wie Apple, Facebook oder Microsoft globale Konzerne sind, bei denen nicht immer ganz klar ist, welchem Recht sie unterworfen sind. Weltweit tun sich Staaten schwer, ihnen Grenzen zu setzen.
Fabbretti hatte es nun mit einem Computerkonzern zu tun, der sich benahm, als obliege es ihm, den Nachlass seines Jungen zu verwalten. So jedenfalls empfand es Fabbretti.
"Ich fühle mich bestohlen", sagt er. Es ist kurz vor zehn am Abend, von draußen weht noch immer warme Luft durch die Fenster. Fabbretti hat in der Küche das Abendessen angerichtet, Salat, Lasagne, eingelegte Paprika und Zucchini. Fabbrettis Bruder ist zu Besuch aus der Schweiz und auch ein älterer Herr mit einem grauen Schnäuzer, ein Nachbar aus der Zeit in Rom, als Fabbretti und sein Bruder noch Kinder waren. Der Bruder und der Nachbar kennen die ganze Geschichte von Anfang an, die drei Dutzend Mails, die Fabbretti an Apple geschrieben hat, seine Hoffnung, seine Enttäuschung, seine Wut.
Inzwischen kennt man sie in ganz Italien. Fast alle Zeitungen und Fernsehsender haben darüber berichtet. In manchen Beiträgen wirkt Fabbretti wie ein Getriebener, der etwas Unmögliches schaffen will und seinem Ziel alles unterordnet, sogar die Trauer um seinen Sohn. Doch wenn man einige Zeit bei ihm zu Gast ist, begegnet man einem Mann, der lacht und weint, oft kurz nacheinander, und dem das Gefühl gutzutun scheint, dass es noch etwas gibt, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Deshalb redet er mit Journalisten. Seine Frau verlässt dann das Haus, sie findet, dass ihre Trauer nur sie etwas angeht.
Seine Alben sind ein iPad und ein Laptop
Als Fabbretti und seine Frau ihr Studium beendet und schon eine Weile gearbeitet hatten, zogen sie nach Foligno, Umbrien. Rom war aufregender, aber Foligno war die Stadt, in der Fabbrettis Vater geboren und aufgewachsen war und in der man sich ein gutes Leben leisten konnte. Fabbretti kaufte eine Wohnung in einer der alten, engen Gassen in der Innenstadt und richtete sie her. Er hängte bemalte Teller aus der Zeit der Renaissance an die Wände, jeder ein Sammlerstück. Fabbretti mag die alte Zeit, doch er lebt in der neuen.
Er hat ein Laptop und einen Tabletcomputer, den er fast überall mit hinnimmt. Wenn er eine Reise buchen oder etwas nachschlagen will, sucht er im Internet. Seine Erinnerungen an Feiern, Ausflüge oder Urlaube kuratiert er wie Ausstellungen, er benutzt dafür seit Jahren keine Fotoalben mehr. Seine Alben sind ein weißes iPad und ein schwarzes Acer-Laptop, auf dem er mehr als 10.000 Fotos gespeichert hat, abgelegt in Ordnern, sortiert nach Daten und Jahreszahlen.
Fabbretti sagt, sie hätten oft ganze Abende damit zugebracht, auf dem Sofa im Wohnzimmer zu sitzen und sich Fotos anzusehen, seine Frau, sein Sohn und er, ihr Leben als Daumenkino. Papa, sagte der Sohn, ein eifriger Historiker seiner eigenen Geschichte, wir haben so viele gute Erinnerungen.
Fabbretti fischt mit einer geübten Handbewegung sein Laptop vom Tisch, er sitzt lieber im Wohnzimmer, wenn er Gäste hat, auf einem der Sofas. Er stellt sich den Laptop auf seine Knie und öffnet einen der Ordner, "Januar 2007".
Hoffnung mit staubverschmierten Gesichtern
An einem kalten Morgen fuhr Fabbretti mit seiner Frau zum Flughafen. Sie war jetzt 43, er 47. Sie fanden sich mit dem Gedanken ab, dass sie keine Kinder würden zeugen können. Sie hatten alles versucht. Nun waren sie auf dem Weg nach Äthiopien. Ein Bekannter hatte ihnen von einem Waisendorf erzählt und davon, dass man in Afrika nicht Jahre mit Papier und Bürokratie zubringe, bevor man ein Kind adoptieren könne.
Sie waren kaum angekommen, da drückte eine der Frauen Fabbretti einen Jungen mit großen schwarzen Augen an die Brust, der in viel zu großen Kleidern steckte. "Nehmen Sie mal." Und dieser Junge klammerte sich an ihn, als wollte er nie wieder loslassen. Fabbretti erfuhr, dass er wohl ein Jahr lang auf der Straße gelebt hatte. Dort hatte die Polizei ihn aufgelesen und in ein Heim gebracht. Seine Mutter war offenbar tot und sein Vater irgendein Mann, über den man nichts weiter wusste. Der Arzt, der Dama untersuchte, schätzte ihn auf etwa vier Jahre.
Fabbretti hat in diesen zehn Tagen fast zweihundert Fotos gemacht. Dama mit seiner Frau, Dama mit einer der Frauen im Heim, Dama mit anderen Heimkindern, Hoffnung mit staubverschmierten Gesichtern. Als sie zurück nach Italien flogen, war Fabbretti ein Vater.
Der Junge wurde größer, kam in die Schule, war gut in Geschichte und Geografie und schlecht in Mathe. Er ging zum Judo, zu den Pfadfindern und schien sich mit jedem zu verstehen. Fabbretti kaufte sich eine Vespa und fuhr zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder in einen Skiurlaub. Er wollte dem Jungen etwas bieten und berauschte sich an dem Gefühl, selbst wieder ein Kind sein zu dürfen.
Ein Osteosarkom
"Unglaublich", sagt Fabbretti leise, wie zu sich selbst. Spät an diesem Samstagabend, nach einer Reise durch die Fotos und die Jahre, wundert er sich mal wieder, wie schnell die Zeit vergehen kann. Er beißt ein Gähnen weg, öffnet einen neuen Rotwein und den nächsten Ordner, "Dezember 2013".
Val di Sole, Südtirol, Vater und Sohn im Skiurlaub mit Bekannten. Ein Himmel, so prospektblau und kondensstreifenfrei, dass es in den Augen schmerzt. Dama mit schwarzem Helm und weißem Lachen, furchtlos jede Piste hinunterjagend, tiefe Hocke, immer geradeaus. Als er in einen Sessellift stieg und den Bügel schloss, klemmte er sich den rechten Oberschenkel ein und wimmerte entsetzlich. Der Vater, der seinen Sohn nie zuvor wegen Schmerzen hatte weinen sehen, erschrak. Es ist bestimmt nichts, sagte einer der Bekannten und gab dem Vater eine Salbe.
Im Oberschenkelknochen Ihres Sohnes sind Zellen, die dort nicht hingehören, sagte Wochen später der Facharzt einer Spezialklinik. Osteosarkom, "alto grado".
Was genau ist ein Osteosarkom?, fragte der Vater.
Ein Knochentumor, bösartig, sehr selten in diesem Alter, sagte der Arzt.
Ab da gehorchte das Leben der Familie einem Rhythmus aus Arztterminen, Chemotherapiezyklen und Blutanalyse. Fabbrettis Frau ließ sich von der Schule, an der sie unterrichtete, zwei Jahre beurlauben.
Es begann die Zeit, in der die Bilder auf Fabbrettis Laptop allmählich weniger wurden.
Im Mai 2014 beugten sich zwei Operateure über Damas rechten Oberschenkel, sie ersetzten 20 Zentimeter des Femurknochens durch eine Prothese. Als er aus der Narkose erwachte, lächelte der Junge, er war erschöpft, aber sonst wie immer. Er versteht nicht, wie ernst es ist, dachte der Vater, vielleicht war es besser so.
Dann Methotrexat 12mg/m2. Dann Adriamycin, 90 mg/m2. Paracetamol 500 mg gegen die Schmerzen.
Ein iPhone 6, schwarzglänzend
Im Dezember, ein Jahr nach der Diagnose, waren die Ärzte voller Hoffnung, dass der Tumor verschwunden sein könnte. Die Chemotherapie schien angeschlagen zu haben. Fabbretti kaufte ein iPhone 6, schwarzglänzend, 64 Gigabyte Speicherplatz. Dama war der Einzige in seiner Klasse, der noch kein Handy hatte. Fabbretti wollte das beste Handy, das man bekommen konnte. Wer weiß, dachte er insgeheim, wie lange der Junge noch etwas davon hat.
Der Junge schien sich keine Sorgen zu machen. Er brachte ein Mädchen mit nach Hause und klebte das Schlüsselloch seiner Zimmertür mit einem nassen Papierklumpen zu. Matilde, lange blonde Haare, feine Nase, im Gesicht schon die Andeutung der Frau, die sie einmal sein würde. Sie machten Fotos von sich mit ihren Handys, ein paar stellten sie auf Facebook ein.
"Es gab bald noch ein anderes Mädchen", sagt der Vater. Vielleicht ahnte der Sohn doch etwas.
Anfang 2015, die nächste Untersuchung. Der Tumor hatte gestreut. Es gehe nun darum, dem Jungen die Schmerzen zu nehmen, sagten die Ärzte.
Im Mai kam Dama in ein Hospiz, eine alte Villa in einem Dorf, ländliche Idylle, nicht weit von zu Hause. Irgendwie gelang es Fabbretti, zu organisieren, dass Terence Hill in dieses Heim kam, Star einer Fernsehserie, die in Italien jeder kennt. Tagelang erzählte Dama von nichts anderem.
Mitte August, an seinem 13. Geburtstag, schaffte er es zum letzten Mal allein aus seinem Bett. Am Nachmittag des 11. September füllten zwei Männer vom medizinischen Dienst seine Morphiumpumpe auf. Wenig später wurde es still in seinem Zimmer.
Fabbretti und seine Frau, wund vor Trauer, lagen im verdunkelten Schlafzimmer und suchten Trost in ihren Erinnerungen. Das letzte gemeinsame Weihnachten. Der letzte gemeinsame Ausflug. Das letzte Zeugnis, das die Lehrer Dama nach Hause gebracht hatten. Damas letztes Lachen. Matildes letzter Besuch. Dama, wie er alles mit seinem Handy fotografierte.
Als Fabbretti wenig später im Zimmer seines toten Sohnes stand, um sich diese Bilder anzusehen, funktionierte der Fingerabdruckscanner nicht mehr wie sonst.
Wirtschaft gegen den Staat
"Es kann ja wohl nicht sein, dass ich deshalb die Fotos nicht sehen kann", sagt Fabbretti und stößt verächtlich Luft durch die Nase. Weit nach Mitternacht ist er an dem Punkt der Geschichte angelangt, an dem seine private Angelegenheit zu einem Problem wird, das sehr viele Menschen in aller Welt betreffen kann.
Der Computer ist die wichtigste Apparatur der Welt. Computer steuern Kraftwerke und Satelliten, sie errechnen Börsenkurse und halten Unternehmen und Staaten am Laufen. Und wer die Macht über Computer hat, hat Macht über fast alles. Deshalb gehören Konzerne wie Apple, Facebook oder Microsoft inzwischen zu den einflussreichsten Institutionen der Welt. Manchmal scheint es, als seien sie mächtiger als Staaten.
Nachdem das FBI, eine der größten Polizeibehörden der Welt, Apple aufgefordert hatte, ihm bei seinen Terrorermittlungen zu helfen und das iPhone des Attentäters von San Bernardino zu knacken, sagte Apples Vorstandschef Tim Cook, er wolle keine Hintertür öffnen, weil man damit die Sicherheit für alle Nutzer senke. Ihm sprangen gut 20 Unternehmen bei, darunter Google, Microsoft, Amazon, Ebay und Intel, alles große Namen. Die Konzerne argumentierten, dass ein Staat kein Unternehmen zwingen dürfe, die Sicherheit seiner Produkte zu schwächen. Es war auch ein Machtkampf. Die Wirtschaft gegen den Staat. Die Wirtschaft gewann.
Ein digitaler Nachlass
Fabbretti aber ist ein Vater, nicht das FBI, das von einem Unternehmen verlangt, private Daten eines Bürgers zugänglich zu machen. Es geht um einen Jungen, gerade in der Pubertät, der sein Leben mit seinem Handy fotografiert hat, wie es Millionen Menschen in aller Welt tun. Als er starb, waren in seinem Telefon Hunderte Fotos und Chat-Nachrichten weggeschlossen, eine Art digitaler Nachlass.
Apple aber, so kommt es Fabbretti vor, scheint zwischen ihm und dem FBI nicht groß zu unterscheiden.
Das alles erklärt, warum Menschen manchmal denselben Eindruck haben wie Fabbretti: dass die großen, internationalen Unternehmen sich im Zweifel eher ihren allgemeinen Geschäftsbedingungen verpflichtet fühlen als den Gesetzen der Länder, in denen ihre Kunden leben. Es ist allerdings auch so, dass die Konzerne der Computerindustrie in einem Dilemma stecken.
Ein Unternehmen, das die Privatsphäre seiner Kunden nicht schützt, hat ein großes Problem. Denn die Menschen verlassen sich darauf, dass ihre Daten sicher sind, dass Privates auch privat bleibt. Auch deshalb hat Apple den Streit mit dem FBI genutzt, um sich als Wahrer des Datenschutzes und der Interessen der Bürger zu inszenieren.
Und wenn die Firma das iPhone von Fabrettis Sohn hackt, wird es nicht lange dauern, bis der Nächste kommt, der das auch verlangt. Vielleicht sind es Eltern, die ihr Kind beschützen wollen. Doch was, wenn ein Vater, vielleicht streng religiös, bloß herausfinden will, ob seine Tochter einen Freund hat, mit dem sie heimlich schläft, um sie zu bestrafen? Und was, wenn jemand ein Handy geklaut hat und an Daten heranwill, die ihn nichts angehen?
Nichts anderes als ein Tagebuch
Die Frage, wer ein berechtigtes Interesse hat und wann, ist nicht ganz einfach zu beantworten, jedenfalls nicht grundsätzlich.
Manchmal scheint der Fall eindeutig, wie bei Fabbretti. Und manchmal passiert es auch, dass ein Gericht die großen Unterhaltungskonzerne daran erinnert, dass das Zusammenleben in Staaten mithilfe von Gesetzen organisiert wird, die auch im Zeitalter der Digitalisierung für alle gelten. Wie vor ein paar Monaten.
Da zwang das Berliner Landgericht Facebook mit einem Urteil, einer Mutter Zugang zum Profil ihrer toten Tochter zu verschaffen. Es ist der Fall, von dem Fabbretti gelesen hat. Im Grunde, so sahen es die Richter, seien ein E-Mail-Konto oder ein Facebook-Profil nichts anderes als ein Tagebuch. Und wenn ein Kind stirbt, dann erben es die Eltern. Analoger Nachlass, digitaler Nachlass, das war für die Richter eins.
Er war das erste Mal, dass ein Gericht sich so ausführlich mit diesem Thema auseinandergesetzt hat. Das Urteil gilt deshalb als Richtschnur für künftige Fälle. Es wäre interessant zu wissen, wie Apple und Facebook über all das denken, was sie zu den beiden Fällen sagen. Doch sie halten sich bedeckt. Apple hat auf die Bitte um ein Interview nicht reagiert. Und eine von Facebooks Sprecherinnen sagt nur, man bemühe sich darum, "eine Lösung zu finden, die der Familie hilft und gleichzeitig die Privatsphäre Dritter, die möglicherweise betroffen sind, schützt".
Fabbretti hatte überlegt, Apple zu verklagen. Doch wer wusste schon, ob italienische Richter genauso geurteilt hätten wie die in Berlin, fragte er sich. Außerdem zeigte der Fall ja auch, dass Facebook das Urteil nicht akzeptiert und seinerseits dagegen vorgeht. Es gibt, dachte sich Fabbretti, vielleicht noch eine andere Möglichkeit, zu bekommen, was er wollte. Denn wenn die vergangenen Wochen etwas gezeigt hatten, dann doch dies: dass Apple wohl doch nicht so unverwundbar war, wie es lange Zeit den Anschein hatte. Das Unternehmen mag sich geweigert haben, dem FBI zu helfen. Aber das FBI hatte eine Firma gefunden, der das angeblich Unmögliche gelungen war: ein iPhone zu knacken und alle darauf gespeicherten Daten zu öffnen. Zumindest stand es so in den Zeitungen.
Der Hightech-Forensiker
Also suchte Fabbretti im Internet nach der Adresse dieser Firma und schrieb eine Mail mit seinem Anliegen, "cordiali saluti" – mit herzlichen Grüßen. Die Antwort kam schnell, Fabbretti bekam eine Telefonnummer, ein Berater der Firma in Italien, vielleicht könne der helfen.
Zwei Wochen später, an einem Donnerstag, packte Fabbretti sein Laptop und das iPhone seines Sohnes in eine schwarze Umhängetasche und setzte sich in sein Auto, einen Fiat Multipla, metallicgrau. Es war fünf Uhr morgens, in sechs Stunden etwa würde er in Genua sein. Er wollte dort einen Mann mit rauchdunkler Stimme treffen, der ein bisschen aussah wie er selbst vor zehn oder fünfzehn Jahren, silbernes, krauses Haar, dunkler Teint.
Mattia Epifani arbeitet als verdeckter Ermittler in der Softwareindustrie, er ist ein Hightech-Forensiker, der Spuren auch dort sichert, wo angeblich keine Spuren zu finden sind. Er ist 38, hat eine Firma mit Standorten in Genua und Mailand. Seine Kunden sind Staatsanwälte, große Unternehmen, Gerichte. Er verdient sein Geld damit, belastbare Beweise gegen Kriminelle zu sammeln, gegen Hacker, Wirtschaftsspione, Kinderporno-Ringe. Er treibt sich mit falschen Identitäten im Internet herum, analysiert Festplatten und seziert Viren und andere Schädlinge.
"Die Geschäfte laufen sehr gut", sagt er.
Seit einiger Zeit hat er es häufiger mit Handys zu tun, die er knacken soll. Noch vor einigen Jahren war das gängigste Modell ein Nokia mit ein paar Megabyte Speicherplatz, heute bringen die Leute kleine Computer zu ihm, auf denen man Unmengen von Daten ablegen kann. Tausende Fotos, den E-Mail-Verkehr vieler Jahre, elektronische Dokumente, die mehrere Regalmeter füllen würden, wenn man sie ausdruckte. Auch deshalb werden Handys für die Ermittler der Strafverfolgungsbehörden immer wichtiger. Denn es gibt oft keine andere Möglichkeit für sie, private Dokumente einzusehen oder verschlüsselte Nachrichten zu lesen, die ihnen helfen, ihre Fälle zu lösen.
Wirtschaftlicher Selbstmord
Viele Menschen tragen inzwischen fast ihr ganzes Leben auf Handys oder Tabletcomputern herum, im Vertrauen darauf, dass alles jederzeit verfügbar ist. Es ist praktisch und riskant. Die einen denken nicht daran, regelmäßig Sicherheitskopien auf ihrem PC zu speichern. Wenn ihr Handy oder Tabletcomputer kaputtgeht oder geklaut wird, sind alle Daten weg. Die anderen unterschätzen, zu was eine Ehefrau imstande ist, wenn sie glaubt, dass ihr Mann sie betrügt. Das sind so die Aufträge, die der Digitaldetektiv Epifani immer häufiger bekommt.
Als Fabbretti vor seinem Schreibtisch saß, müde von der langen Autofahrt, ein Flehen im Blick, erklärte Epifani ihm, dass es manchmal keine Lösung gebe, wenn man den Zugangscode eines iPhones nicht kenne. Er sagte, es wäre wirtschaftlicher Selbstmord, wenn Apple verriete, wie man die Telefone und Computer des Unternehmens knacken könnte. Denn Apples weltweiter Erfolg, auch der des iPhones, beruht darauf, dass die Produkte als besonders sicher gelten, gut geschützt gegen Hacker. Das iPhone 5 aber war offenbar zu knacken. Cellebrite, das Unternehmen, das Fabbretti zu Epifani geschickt hatte, soll es geschafft haben. So wurde es weltbekannt. Denn sein Auftraggeber war das FBI.
Das iPhone 6 könne zwar bisher niemand ohne den Code öffnen, sagte Epifani, doch er habe eine Idee. Fabbretti zog sein Laptop und das Handy seines Sohnes aus der Umhängetasche und legte beides auf Epifanis Schreibtisch.
Epifani schickte Fabbretti in die Stadt, er brauche drei oder vier Stunden, dann wisse er mehr. Er startete eine spezielle Software und fand heraus, dass Dama ein paar Monate vor seinem Tod eine Sicherungskopie aller Daten auf seinem Handys gemacht hatte, sie lag auf dem Laptop seines Vaters. Sie war stark komprimiert und verschlüsselt, aber Epifani hatte nun die Namen der Fotodateien und dazu Datum und Uhrzeit. Danach konnte er auf dem Rechner suchen.
Er fand die Fotos schließlich in einer Cloud, einem gemieteten Speicherplatz auf einem von Apples Großservern. Was er nun noch brauchte, war ein gültiges Passwort. Fabbretti erinnerte sich an einige Passwörter, die Dama benutzt hatte, eines passte. So gelang es Epifani, 345 Fotos wiederherzustellen. Dama, seine Mutter im Arm, ausgelassen vorm Weihnachtsbaum. Dama, Grimassen schneidend am Adriastrand. Dama mit dunkler Pilotensonnenbrille im Restaurant. Das letzte Weihnachten, der letzte Urlaub, der letzte Ausflug.
"Die Fotos sind unersetzlich"
Als Fabbretti zurückkam, sah er, dass Epifani nach und nach nicht nur Hunderte Fotos auf seinen Bildschirm gezaubert hatte, sondern auch zig WhatsApp-Nachrichten, die sein Sohn seinen Freunden geschrieben hatte. Er sah allerdings auch, dass auf Damas Handy noch etwa 200 Fotos lagen, an die nicht heranzukommen war, die letzten vier Monate in Damas Leben.
Am Abend fuhr Fabbretti zu einer Bekannten, bei der er übernachtete, glücklich und unendlich müde. Am nächsten Tag, auf der Heimfahrt, blickte er aus dem Fenster und setzte den Blinker. Er musste aussteigen und ein paar Schritte gehen, seine Freude verlangte nach Raum. Es war ihm ein Rätsel, wie ein einziger Mann in wenigen Stunden schaffte, was Apple zunächst versucht hatte und schließlich vorgab, nicht zu können. Aber er hatte ja nun, worum er seit Monaten gekämpft hatte.
"Für mich", sagt er wenige Wochen später auf seinem Sofa, "sind diese Fotos unersetzlich" – jedes Bild, jede Nachricht so wichtig wie alle früheren zusammen. Sie bringen ihm die Erinnerung an eine Zeit zurück, in der er sich vorgestellt hatte, wie es wäre, wenn sein Sohn recht behielte und die Krankheit irgendwann verschwände. Fabbretti schluckt schwer. Ein Sonntag ist angebrochen, der sein wird wie so viele Sonntage. Er wird ein bisschen lesen, einen Kaffee trinken und mit seiner Frau etwas essen gehen. Irgendwann wird er wieder auf diesem Sofa sitzen.
Wenn er aufblickt, sieht er die weiße Flügeltür, die immer halb offen steht, das weiße Metallbett, die hellblau gestrichenen Wände. Irgendwann wird er aufstehen, in Damas Zimmer gehen, die Schublade des kleinen Holzschreibtisches öffnen. Nur um sicherzugehen, dass das Handy noch da ist.
Quelle: n24.de
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