Diese ersten Spiele in Südamerika, sie bringen eine Stimmung mit sich, wie es sie bei Olympia noch nie gegeben hat. Sogar geprügelt haben sich ein brasilianischer und ein argentinischer Fan schon, ebenfalls beim Tennis. Und am Montagabend bei der Leichtathletik ging es dann plötzlich sogar um die Nazis.
"1936 waren die Leute gegen Jesse Owens, seitdem haben wir so etwas nicht mehr erlebt", sagte der französische Stabhochspringer Renaud Lavillenie, nachdem er im Finale von den Zuschauern niedergepfiffen worden war. Er hatte das Pech, gegen einen Brasilianer anzutreten, Thiago da Silva, der den Zweikampf um Gold schließlich für sich entschied.
"Es ist das erste Mal, dass man so etwas in der Leichtathletik sieht", sagte der Franzose. "Für die Olympischen Spiele ist das kein gutes Image." Bei der Siegerehrung tags darauf wurde Lavillenie derart ausgebuht, dass ihm gar die Träne kamen. Sein brasilianischer Konkurrent versuchte, die Menge mit Gesten zu beschwichtigen. Es waren beschämende Bilder. Wieder einmal.
Die Parteilichkeit der brasilianischen Zuschauer ist in diesem Extrem für das Jugendweltfest des Sports tatsächlich neu. Eigene Athleten werden mit einer geradezu hysterischen Inbrunst angefeuert. Bei jedem Ball, bei jedem Sprint, bei jedem Angriff, bei jeder Kür. Die Turnmedaille am Sonntag von Diego Hypolito zog eine kollektive Tränenmesse nach sich. Selbst den einheimischen Athleten geht das manchmal zu weit. "Die Menge hat mich etwas zu viel bejubelt", sagte da Silva. "Ich musste mich auf die Technik konzentrieren und es vergessen."
Wenn es dumm läuft, dann wird eine bleibende Hinterlassenschaft dieser Spiele darin bestehen, dass der Geist der olympischen Fairness begraben wurde. Die nächste Kostprobe könnte es am Donnerstags Morgen um 5.00 Uhr MEZ geben, wenn das deutsche Beachvolleyball-Duo Laura Ludwig und Kira Walkenhorst im Finale gegen die Brasilianerinnen Agatha und Barbara antreten.
Olympiahistoriker wissen vielleicht, dass es Szenen wie jetzt beim Tennis schon einmal gab: beim Fechten in Paris 1924 hatten Fans des gerade faschistisch gewordenen Italien auch mal randaliert. Insofern lag Lavillenie also gar nicht so falsch mit seinem Vergleich, für den er sich später im übrigen entschuldigte ("In dem hitzigen Moment habe ich die Tragweite der Aussage nicht bedacht."). Seit der Zwischenkriegszeit, als die Spannungen bei Olympia von der sich ankündigenden Barbarei erzählten, hatte es so etwas nicht mehr gegeben.
Brasilien dreht sich um sich selbst
Vor vier Jahren in London war es noch ganz anders. Die Briten waren begeisterungsfähig, fachkundig und fair, das erwartete Musterpublikum im Mutterland des Sports. Dazu garantierte die Internationalität der Weltmetropole praktisch allen Athleten eine Unterstützung durch Landsleute. Im Vergleich dreht sich Brasilien um sich selbst. Und auch wenn vor allem die Ausländer schimpfen mögen – es leidet auch mehr als alle anderen an den Unzulänglichkeiten dieser Spiele.
Dienstagmorgen beim Kanu, selbst ein Olympiasieger wie der Einer-Ruderer Mahé Drysdale kommt zu spät zu den Rennen, weil er in den Schlangen an der Einlasskontrolle feststeckt. Der blonde Sonnyboy nimmt es mit neuseeländischer Gelassenheit: "Ich habe schon Gold und eine große Zeit hier, in Rio kann man gut feiern". Am normalen Zuschauereingang stehen die Leute hunderte Meter an. Nicht mal die Hälfte schafft es zum Duell zwischen Sebastian Brendel und dem Brasilianer Isaquias Queiroz dos Santos. Was für Brendel immerhin den Vorteil hat, dass nicht ausgepfiffen wird. Aber das wäre beim Kanu sowieso nicht leicht, die Athleten fahren gleichzeitig.
Über 80 Prozent der Tickets seien schon im Vorfeld verkauft worden, behaupteten die Organisatoren. Man sieht davon nur bei manchen Sportarten etwas, Basketball etwa, auch Volleyball, außerdem überall, wo Brasilianer beteiligt sind. Manchmal ist es auch so absurd wie gestern: Die Tribünen sind leer. Und draußen stehen die Leute an. Als ob man gar nicht damit gerechnet hätte, dass die Ticketinhaber auch tatsächlich zur Strecke kommen würden. So wie es auf den Anlagen praktisch keine Essensmöglichkeiten gibt, als ob die Veranstalter gar kein Geld verdienen wollten.
Die Brasilianer tanzen auch bei Niederlagen
Für ein anderes Hemmnis können die einheimischen Organisatoren nichts: Die Anfangszeiten. Die Schwimmwettbewerbe begannen wegen des US-Fernsehmarktes erst nach 22 Uhr Ortszeit, bei der Leichtathletik sieht es diese Woche ähnlich aus. Nun wurde wenigstens der Metrofahrplan ausgedehnt, damit die Zuschauer noch nach Hause kommen. Nach der Eröffnungsfeier standen noch Tausende vor der geschlossenen Station in Maracanã, um diese Uhrzeit keine ungefährliche Gegend.
Was in Europa jedoch zu Aufständen führen würde, nehmen die Brasilianer meist mit Gelassenheit. Auch von enttäuschenden Leistungen ihrer Athleten lassen sie sich nicht abschrecken – sie werden trotzdem mit Sprechchören gefeiert. Als der 18-jährige Bogenschütze Marcus Vinicius D`Almeida – Spitzname: "Neymar mit Pfeilen" – vorige Woche schon in der ersten Qualifikationsrunde ausschied, tanzten im Sambódromo trotzdem ein paar hundert Zuschauer wie beim Karneval und sangen ihm zu Ehren die inoffizielle Nationalhymne: Eu sou brasileiro / com muito orgulho / com muito amor. "Ich bin Brasilianer, mit viel Stolz und mit viel Liebe".
Almeidas amerikanischer Gegner Jake Kaminski hingegen erlebte dieselbe Direktheit, die Lavillenie mit seinem drastischen Vergleich jetzt zu Weltruhm gebracht hat: er wurde ausgepfiffen, ein Novum natürlich auch im beschaulichen Bogenschießen. "Das habe ich in unserem Sport noch nie erlebt", sagte auch die Kanadierin Jen Kish nach derselben Erfahrung im Rugby. Man hat diesen Satz jetzt schon ziemlich oft gehört, ebenso einen anderen: "wie beim Fußball". So wird es Mittwochnacht wieder besonders zugehen. Im Maracanãzinho, dem kleinen Maracanãna, stehen die Volleyball-Viertelfinals an. Brasilien trifft auf Argentinien, das Maximum der Rivalität.
Im Tennisstadion braucht es für die Feindseligkeiten nicht einmal ein direktes Duell. Der Zwischenrufer wird von den Ordnern abgeführt, er macht noch ein paar Faxen. Die brasilianischen Fans buhen. Nicht wegen seiner unsportlichen Geste. Sondern weil er Argentinier ist.
Quelle : welt.de
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